Tschechien vor der nächsten Wende

Endlich ist die Linke draußen, endlich haben wir ein rechtes Parlament und eine rechte Regierung, jubelten viele, als es die sozialdemokratische und die kommunistische Partei bei den Oktoberwahlen 2021 nicht mehr ins Parlament schafften.

Die Linke – das sind die Kommunisten und 40 Jahre totalitäre Diktatur. Die Rechte – das ist der demokratische Westen. Die Klischees der Wendejahre sind bis heute tief verwurzelt.

Zurück in den Westen

Das sind nicht nur Klischees. Mit dem Westen machten bereits die Dissidenten der achtziger Jahre nähere Bekanntschaft, als sie von diesem medial, politisch wie auch finanziell unterstützt wurden. Der Westen hatte freilich nicht nur idealistische Motive. Besonders antikommunistische Kreise sahen in den oppositionellen Bürgerinitiativen im Osten eine Waffe des Kalten Krieges. Hinter den vielseitigen Kontakten und Hilfeleistungen lagen auch strategische Überlegungen, nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks machten sie sich bezahlt.

Während der Wende ergriffen die Dissidenten die Initiative, bis sie später von pragmatischeren Neoliberalen verdrängt wurden. Sie übernahmen unter anderem die Archive der Staatspolizei und des Auslandsgeheimdienstes und räumten den neuen Freunden von der CIA blauäugig einen uneingeschränkten Zugang zu diesen ein, ja lieferten den westlichen Regierungen Listen jener tschechoslowakischen Agenten, die nicht mehr von Nutzen waren.

Die beiden Institutionen wurden aufgelöst und durch neue ersetzt. Seine politische Zuverlässigkeit konnte der neue Auslandsgeheimdienst gleich unter Beweis stellen, als er im Jänner 1992 für den US-Präsidentenwahlkampf gezielte Falschinformationen über angebliche Kontakte Bill Clintons zum KGB in Prag lieferte. Das bewährte sich. Also lieferte man im Herbst 2000 weitere Falschinformationen über einen von Saddam Husseins Geheimdienst geplanten Terroranschlag auf die Zentrale von Radio Free Europe/Liberty in Prag, sowie im Mai 2002 Falschinformationen über Kontakte von Mohammed Atta, dem vermeintlichen Anführer der 9/11-Anschläge, zu Saddams Geheimdienst in der Prager irakischen Botschaft. Mit der Zeit verschob sich das Interessenfeld und im April 2020 machten Informationen über ein geplantes Giftattentat eines russischen Agenten auf einen tschechischen Kommunalpolitiker Furore. Als jedoch der Geheimdienst im April 2014 als Verursacher der Explosion des Waffenlagers in Vrbětice ausgerechnet jene zwei russischen Agenten identifizierte, die Sergei Skripal 2018 im englischen Salisbury mit Nowitschok hätten vergiften sollen, entstanden Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit.

Den europäischen Frieden sichern…

Auch der neue Präsident Václav Havel hat eine Entwicklung durchgemacht. Als Dissident bekannte er sich zur sozialdemokratischen Tradition, und seine Programmvorstellungen unmittelbar nach der Wende bestanden in einem demokratischen Sozialismus sowie in der Auflösung von Warschauer Pakt und NATO. Falls Sie uns helfen wollen, helfen Sie zuerst der UdSSR, bekundete er im amerikanischen Kongress im Februar 1990. Dort auch den Vorschlag zu machen, die NATO aufzulösen, hat ihm George Soros noch rechtzeitig ausgeredet.

Doch nur drei Jahre später ersuchte er aus Angst vor dem russischen Expansionismus gemeinsam mit Lech Walęsa Bill Clinton um die Aufnahme in das NATO-Bündnis, um, wie er sagte, den europäischen Frieden zu sichern. Diese Aussage wird als das entscheidende Argument für die NATO-Osterweiterung zitiert: nicht der Westen, nicht die NATO, sondern die postkommunistischen Länder selbst hätten darum gebeten.

Es scheint jedoch, dass nicht alles nach Plan lief. Im Oktober 1998 wurde der pensionierte Wiener Bürgermeister Helmut Zilk fünf Tage vor seiner Auszeichnung durch Präsident Havel plötzlich mit der Begründung ausgeladen, er habe mit dem tschechoslowakischen Geheimdienst zusammengearbeitet. Untersucht man die mediale Affäre näher, stellt man fest, dass diese von Havels Kanzleichef Ivan Medek, dem ehemaligen Voice of America- Sprecher, sorgfältig inszeniert worden war. Die plausibelste Erklärung ist, dass es ihr Ziel war, Havel einen Schuss vor den Bug zu geben.

Wozu man ihn überzeugen wollte, ist nicht klar. Fünf Monate später, im März 1999, wurden Tschechien, Polen und Ungarn auf dem Washington- Gipfel in die NATO aufgenommen, auf welchem gleichzeitig auch der Handlungsrahmen der Allianz erweitert wurde, um diese zur Durchführung von offensiven Missionen auch in anderen Ländern zu ermächtigen. Und prompt folgte die erste offensive NATO-Aktion, die humanitäre Bombardierung von Jugoslawien, wie Havel sie bezeichnete.

Tschechisch-österreichische Verstimmung

Ungefähr zur gleichen Zeit verschärften sich die tschechisch-österreichische Beziehungen. Unmittelbar nach der Wende waren die großzügige österreichische Hilfe 1968, sowie die Unterstützung der Dissidenten danach noch in frischer Erinnerung. Schließlich haben nicht wenige 1968 - Emigranten und später Charta 77 - Unterzeichner in Österreich Asyl und eine neue Heimat gefunden. Laut Meinungsumfragen waren unmittelbar nach der Wende Österreicher die beliebtesten Nachbarn der Tschechoslowaken.

Entsprechend groß waren die Erwartungen der neuen tschechoslowakischen Führung, dass Österreich nun die Tschechoslowakei, aber auch die anderen postkommunistischen Länder auf dem Weg zurück nach Europa unterstützen und eine Vermittler- und Führungsrolle in der Region übernehmen würde. Die erste Auslandsreise Havels hätte logischerweise nach Österreich führen müssen.

Doch nach dem Ende der Ära Kreisky war Österreich angesichts der internationalen Isolation wegen Kurt Waldheim (die übrigens Václav Havel mit Richard von Weizsäcker im August 1990 durchbrach), sowie der Vorbereitungen des eigenen EU-Beitritts zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und für eine solche Rolle mangelte es sowohl an Weitsichtigkeit wie auch an personellen Ressourcen. Die einmalige Chance wurde verspielt.

Der unmittelbare Auslöser der Verschlechterung war der Bau des tschechischen Atomkraftwerks Temelín. Nach dem Zwentendorf-Referendum 1978 und bestätigt durch den Tschernobyl-Unfall 1986 sahen sich die Österreicher als ein Vorbote der atomfreien Energie und dazu berufen, den Tschechoslowaken den Bau auszureden.

Aber 1993 zerfiel die Tschechoslowakei und der neue Premier Tschechiens, Václav Klaus, war ein entschiedener Lobbyist für die amerikanische Westinghouse Electric Corporation. Seine Frau Livia war gleichzeitig Aufsichtsrätin des tschechischen Bauherrn, des Energiekonzerns ČEZ, wie auch Beraterin des Lieferanten Westinghouse. Ein Interessenkonflikt war in der soeben eingeführten freien Marktwirtschaft noch kein Thema. Klaus wischte die Bedenken der vorherigen tschechoslowakischen Regierung Petr Pitharts vom Tisch und traf eigenmächtig die Entscheidung für den Bau.

Das stieß bei der österreichischen Bevölkerung auf Unverständnis. Auf die offiziellen Regierungsproteste folgte eine heftige spontane Protestwelle der Zivilgesellschaft bis hin zu Grenzblockaden. Das löste wiederum eine Welle der Bestürzung in Tschechien aus. So wie die Österreicher felsenfeste AKW-Gegner waren, wurden die Tschechen zu ebenso felsenfesten AKW-Befürwortern.

Die Klaus’sche Arroganz goss Öl ins Feuer. Der Bau sei eine rein innertschechische Angelegenheit und Österreich solle sich da gefälligst heraushalten. Mit Österreich haben wir ganz korrekte Beziehungen, erklärte er, genauso wie etwa mit Malta.

Nun erinnerten sich die Österreicher plötzlich an die Nachkriegsvertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, die sie selbst bis dato bejaht, unterstützt und weitergeführt hatten, und zogen die schwere Waffe der Beneš-Dekrete. Daraufhin empfahl ihnen Premier Miloš Zeman, sich des postfaschistischen Landeshauptmanns Jörg Haider zu entledigen, was dieser wiederum Zemans Alkoholismus zuschrieb. Nach der Jahrtausendwende erreichten die Beziehungen ihren historischen Tiefpunkt, als sich Tschechien als einziger EU-Kandidat den EU-Sanktionen gegen Österreich anschloss, während Österreich mit seinem Veto gegen den Beitritt Tschechiens drohte.

Nun reichte es jedoch den Bürgern beider Länder. Es entstand eine einzigartige beiderseitige Initiative, das Österreichisch-Tschechische Dialogforum, das im Juli 2002 auf parallelen Pressekonferenzen in Prag und Wien in einem gemeinsamen Aufruf die beiden Regierungen zur Mäßigung ermahnte. Im September trafen sich die Präsidenten Václav Havel und Thomas Klestil in Znaim und bekräftigten ihren Willen zu freundschaftlichen Beziehungen. In den nachfolgenden Jahren glätteten sich die Wogen langsam. 2019 wurde sogar ein Projekt des Dialogforums, das gemeinsame Geschichtsbuch mit dem Titel Nachbarn fertiggestellt.

Klaus und Europa

Václav Klaus hat sich als Kämpfer für die freie Marktwirtschaft nach den Vorstellungen von Friedrich von Hayek und Margaret Thatcher einen Namen gemacht. Doch als sich das Staatseigentum gegen Ende der Neunziger bereits zur Gänze in privaten Händen befand und die Privatisierungsideologie schon weniger populär war, begann er, auf der nationalistischen Welle zu reiten. Ich bin kein EU-Kritiker, erklärte er in einem Interview, ich bin ihr Gegner.

Er weigerte sich, den Lissabon-Vertrag zu unterschreiben und verzögerte die Unterschrift bis November 2009, bis das Verfassungsgericht bestätigte, dass dieser nicht verfassungswidrig sei. Den Nachtrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus von 2012 lehnte er definitiv ab, erst sein Nachfolger unterzeichnete ihn im darauffolgenden Jahr.

Seine Haltung blieb nicht ohne Langzeitfolgen. Von über 77% der Pro-EU-Stimmen im Referendum von 2003 sank das Vertrauen der Tschechen in die EU bis 2020 auf 35%.

Außenpolitisch war Klaus im Unterschied zu Regierung und Staatsapparat nicht proamerikanisch, sondern eher amerikakritisch und prorussisch. Er äußerte sich gegen die NATO-Bombardierung von Jugoslawien, gegen die Anerkennung des Kosovo und auch gegen den Irak-Krieg. Mit der Behauptung, der Irak besitze keine Massenvernichtungswaffen, erregte er das Missfallen von Georg W. Bush und mehr noch unmittelbar nach der Invasion, als er die Bemerkung machte, dass dort nun vielleicht welche gefunden werden würden. Doch im April 2010 war er Gastgeber von Barack Obama und dem russischen Präsidenten Dmitrij Medwedew bei der Unterzeichnung des neuen START-Vertrags über die Reduktion strategischer Waffen.

Er vertrat unkonventionelle Meinungen auch zu etlichen anderen Themen, wie zur Klimaerwärmung und zum Klimaschutz. Er verfasste sogar ein Buch zu diesem Thema mit dem Titel Blauer Planet in grünen Fesseln, in welchem er eine menschenverursachte Klimaerwärmung bestritt und forderte den damaligen Präsidentschaftskandidaten John Kerry zu einer öffentlichen Diskussion darüber auf, allerdings vergeblich.

Brave Soldaten

Die Staatspolitik konnte Klaus jedoch in ihrem proamerikanischen Kurs nicht beirren, diese befindet sich seit den ersten Nach-Wende-Stunden fest in atlantischen Händen. Die tschechoslowakische Armee nahm zum ersten Mal in ihrer Geschichte gleich 1992 an Kriegshandlungen teil und unterstützte mit ihrer Chemiewaffenschutzeinheit die Irak-Invasionstruppen. Es sei erwähnt, dass die Tschechoslowakei und danach Tschechien in der Erforschung und Entwicklung chemischer und psychotroper Kampfstoffe lange Tradition hat und auf diesem Gebiet zur Weltspitze gehört.

Danach beteiligte sich die tschechische Armee an etlichen weiteren amerikanischen Angriffskriegen beginnend mit 2001 in Afghanistan. Als sich zwei Jahre später Deutschland und Frankreich weigerten, den Angriff auf den Irak mitzutragen, schloss sich Václav Havel dem öffentlichen Brief der 8 europäischen Staatsmänner an, die den Krieg befürworteten und die Weigerung kritisierten.

2006 wurde bekannt, dass die Tschechische Republik über den Bau einer amerikanischen militärischen Radaranlage unweit von Prag zur Abwehr ballistischer Raketen verhandelt. Ein tschechischer Politiker prahlte sogar, die Idee stamme von ihm. Als offizielle Begründung galt die Abwehr von Raketen aus dem Iran oder Nordkorea, obwohl keines dieser Länder damals über die entsprechende Technologie verfügte und der Abschuss interkontinentaler Raketen westwärts technisch unsinnig ist. Inoffiziell bestritt auch niemand, dass das eigentliche Ziel Russland ist. Die bilateralen Verhandlungen mit den USA wurden hinter dem Rücken sowohl der EU als auch der NATO geführt; erst als das Projekt zunehmend in die Kritik geriet, wurde es in den NATO-Rahmen eingegliedert. Außenminister Karel Schwarzenberg und die US-Außenministerin Condoleezza Rice unterzeichneten den Vertrag über den Bau der Radaranlage im Juli 2008.

In Tschechien löste das Vorhaben eine heftige Protestbewegung aus. Es entstand die äußerst lebendige Bürgerinitiative Ne základnám (Nein den [Militär]Basen), geführt von dem Bürgermeister der betroffenen Ortschaft, der Grünen Partei und den Pazifisten. Der breite Widerstand führte vermutlich zwei Jahre später zur Aufgabe des Projekts und zu seiner Verlegung in das kämpferischere Polen.

Der mächtigste Bauer

Nachdem der Kosovo im Februar 2008 seine Unabhängigkeit proklamiert hatte, sorgte Außenminister Karel Schwarzenberg im Mai d.J. dafür, dass die tschechische Regierung unter fragwürdigen Umständen den Kosovo anerkannte. Dies geschah im Widerspruch zum Völkerrecht, zum EU-Recht sowie zur tschechischen Verfassung, und es folgte eine Welle der Kritik. Die faktischen Verhältnisse in der tschechischen Außenpolitik (wie übrigens auch der Innenpolitik) werden treffend durch Schwarzenbergs inoffizielle Erklärung illustriert:  Der mächtigste Bauer knallt mit der Peitsche, und die anderen passen sich an.

Die Erinnerungen an das Jahr 1968 waren vierzig Jahre lang unterdrückt - aus verständlichen Gründen unter dem vorherigen Regime, doch auch danach, denn die Episode des demokratischen Sozialismus ließ sich mit seiner offiziellen Darstellung als vierzigjähriges Verbrecherregime nicht in Einklang bringen. Man begnügte sich also mit einer schlichten Erwähnung des Jahrestages der Invasion der Armeen des Warschauer Pakts.

Das änderte sich 2008 abrupt. Man begann fieberhaft nach Zeitzeugen zu suchen, und für August wurde ein monströses Medienspektakel zum Jahrestag der Okkupation veranstaltet, inklusive sowjetischer Panzer, die im öffentlichen Raum ausgestellt wurden.

Das plötzliche Wiedererinnern geschah genau zu dem Zeitpunkt, als Russland im August gegen Georgien ins Feld zog, nachdem letzteres die russischsprachigen Gebiete Abchasiens und Südossetiens mit Artillerie zu beschießen begonnen hatte. Jetzt fügte sich alles zu einem Bild: Die Okkupation der Georgien 2008 gleicht der Okkupation der Tschechoslowakei 1968! Es folgte eine rasende mediale Hetzkampagne gegen Russland, wie man sie seit den fünfziger Jahren nicht mehr erlebt hat. Es sei an der Zeit, internationale Truppen nach Georgien zu entsenden, rief der grüne Außenminister Karel Schwarzenberg, und die Tschechische Republik ist bereit, an einer solchen Mission teilzunehmen

Auch während seines zweiten Mandats 2010-2013 war Schwarzenberg ein treuer Vasall der USA. Er begrüßte den Sturz Muammar al-Gaddafis 2011, 2012 besuchte er Aung San Suu Kyi in Myanmar und 2013 unterstützte er die Stationierung des Patriot-Flugabwehrsystems in der Türkei. Lediglich seine Einstellung zu Israel ließ zu wünschen übrig. Bei seinem Besuch 2013 stellte er sich gegen die israelischen Luftangriffe auf Syrien, warnte vor dem Angriff auf den Iran und kritisierte den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten als unnötige Provokationen.

Zemans Ostweh

Im Jänner 2013 war die zweite Amtszeit von Präsident Klaus zu Ende. Von neun Kandidaten in der Präsidentschaftswahl - erstmals einer Direktwahl - trafen in der zweiten Runde der westlich orientierte Weltbürger Karel Schwarzenberg und der nach Osten tendierende bodenständige Miloš Zeman aufeinander. Eine nicht unbedeutende Rolle bei Zemans Sieg spielten dann auch der Nationalismus sowie die Beneš-Dekrete.

Zemans außenpolitische Orientierung stand in einem noch krasseren Widerspruch zu der proamerikanischen und antirussischen Politik der Regierung und des Staatsapparats, als vorher die Politik von Klaus. Das machte sich besonders in den Beziehungen zu Russland bemerkbar. Zeman kritisierte die 2014 verhängten antirussischen Sanktionen, wie auch die antirussische Politik der neuen Kiew-Regierung. 2016 sprach er von den Faschisten in der Ukraine, verglich Stepan Bandera mit Hitler und befürwortete ein Referendum über den NATO-Austritt Tschechiens.

Als Premier Boris Johnson im März 2018 die Vergiftung Sergei Skripals und seiner Tochter dem russischen Geheimdienst zuschrieb, da das angeblich verwendete Nervengift Nowitschock ausschließlich in Russland hergestellt werde, meldete sich Zeman zu Wort und bekundete, dass Tschechien ebenfalls Nowitschok produziere. Nach dem Aufruhr über seine für den Westen so verräterische Behauptung beauftragte er den Geheimdienst, den Nachweis über die Produktion von Nowitschok in Tschechien zu erbringen. 

2016 wünschte er sich den Sieg von Donald Trump, da Obama den Nahen Osten destabilisiere und Hillary Clinton diese Politik fortsetzen würde. Die Washington Post bezeichnete ihn als einen de facto Kremlsprecher.  Doch nach der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 änderte sich Zemans Einstellung zu Putin entschieden.

Seine Einstellung zu China ging mit der des Außenministers Lubomír Zaorálek konform. Beim Staatsbesuch 2014 äußerte er sich zustimmend über die regionale Integrität Chinas, sowie die Nichtanerkennung der tibetischen Exilregierung. Er pflegte Kontakte zu Xi Jinping und bot ihm die Tschechische Republik als Basis für die chinesische Wirtschaftsexpansion nach Europa an. 

Anders war es mit der Einstellung zu Israel, in der Lubomír Zaorálek der kritischen Haltung von Karel Schwarzenberg folgte. 2015 beim Treffen mit Benjamin Netanyahu sprach sich Zaorálek gegen den Ausbau der Siedlungen in den okkupierten Gebieten, für die Zweistaatenlösung und für die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge aus.

Dagegen war und ist Zeman strikt proisraelisch. Präsident Zeman ist israelitischer als Israel, bewertete ihn eine Tageszeitung 2014. Bereits als Noch-Premier hat er 2002 bei seinem Besuch in der Knesset die Nachkriegsvertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei als eine Vorlage für die Lösung der Palästinenserfrage empfohlen. Israel ist mein zweites Land, sagte er bei seinem Besuch 2018 und legte einen Kranz am Grab Theodor Herzls nieder. Als er 2021 die neue tschechische Regierung angeloben sollte, stellte er sich gegen den designierten Außenminister der Piraten-Partei Jan Lipavský, der sich gegen den Umzug der tschechischen Botschaft nach Jerusalem ausgesprochen hatte. 

Doch die Außenpolitik des Staats bestimmt trotz etlicher entgegengesetzter Bemühungen Zemans nicht der Präsident, sondern die Regierung und das Außenamt. Und die waren und sind – vielleicht mit Ausnahme der Periode Lubomír Zaoráleks 2014-2017 – fest in atlantischen Händen. Zeman versuchte wiederholt, die Besetzung des Außenamtes zu bestimmen. So blockierte er 2018 den designierten Außenminister Miroslav Poche. Danach gab es bis zu den Parlamentswahlen 2021 auf dem Posten eine rege Fluktuation, und dann versuchte er nochmals, den Außenminister der neuen Regierung Jan Lipavský zu verhindern.

Inoffizielle Außenpolitik

Neben der offiziellen Außenpolitik gibt es auch etliche selbständige Initiativen auf den niedrigeren Etagen des Establishments. Mit Ausnahme des erwähnten Österreichich-tschechischen Dialogforums unterstützen sie jedoch die offizielle Politik meistens, bzw. gehen noch weiter als diese.

Umfangreiche Aktivitäten weltweit betreibt seit 1992 die humanitäre Organisation Člověk v tísni (Mensch in Not). Zu ihren Aufgaben gehören parallel sowohl die humanitäre Hilfe für Menschen in Not bei Katastrophen, Krieg oder anderen Krisen, als auch die Hilfe für Dissidenten und Unterstützung der Zivilgesellschaft in unfreien Ländern und Staaten. Sie ist praktisch in allen Ländern aktiv, in denen auch die USA ihre Interessen verfolgen, z.B. in Afghanistan, Libyen, Kuba, Venezuela, Nicaragua, der DR Kongo, dem Südsudan und natürlich der Ukraine. In Russland gehört sie zu den unerwünschten ausländischen Organisationen.

Außenpolitisch engagierte sich auch der Magistrat des 6. Gemeindebezirks von Prag. Es betraf die dort 1980 installierte Statue von Marschall Iwan Stepanowitsch Konew, der die Befreiung Böhmens 1945 befehligte. Das Schild über seine Verdienste wurde 2018 um die Information ergänzt, dass er ebenfalls die Niederschlagung des ungarischen Widerstands 1953 befehligte, sich 1961 an dem Bau der Berliner Mauer sowie 1968 nachrichtendienstlich an der Invasion des Warschauer Paktes aktiv beteiligte.

Das hatte einen diplomatischen Zwist zur Folge. Die Botschafter von Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Russland und Weissrussland protestierten, und ein Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums erinnerte an die zahlreichen Denkmäler der tschechoslowakischen Legion aus dem 1. Weltkrieg in Russland, die ebenfalls negativ besetzt sind.

Nachdem das Denkmal wiederholt zum Ziel von Vandalismus geworden war, wurde es 2019 nach langwierigen diplomatischen Auseinandersetzungen endgültig abgerissen. 2021 wurde Tschechien in die russische Liste der feindlichen Staaten aufgenommen.

Inzwischen gewann China als Feind an Bedeutung. 2019 wurde ein Bericht des Geheimdienstes BIS veröffentlicht, der vor chinesischer Spionage, Cyberattacken sowie Technologien wie Huawei und ZTE warnte. Es gab auch eine Welle von Unterstützungserklärungen für die Hongkong-Demonstranten.

Daran beteiligten sich wiederum Laien-Aktivisten. Die Stadt Prag kündigte den Partnerschaftsvertrag mit Peking auf und schloss einen neuen mit Taipeh. Ich bin ein Taiwanese, bekundete der Senatspräsident Miloš Vystrčil bei seinem demonstrativen Taiwan-Besuch im August 2020, und wiederholte es sogar auf chinesisch.

Endlich ist die Linke raus

Doch die Politik der letzten Jahre dominierte weder die Linke noch die Rechte, sondern Andrej Babiš.

Unter dem Mangel an vernünftigen Etiketten wird er als Populist bezeichnet. Pragmatiker wäre passender: Ein slowakischer Multimilliardär, der zur gleichen Zeit wie der Kanadier Frank Stronach in Österreich 2012 vom Business in die Politik wechselte und eine eigene Partei, die ANO (Aktion unzufriedener Bürger) gründete. Babiš ist Gründer und Eigentümer der größten tschechischen Agrar- und Chemie-Holding AGROFERT mit einem Umsatz von über 5 Milliarden € jährlich und indirekt auch Eigentümer des Medienkonzerns MAFRA, der u. a. die größte Tageszeitung DNES herausgibt. 

Im Unterschied zum Team Stronach ist die ANO eine Erfolgsstory. Gleich 2014 bildeten die sozialdemokratische ČSSD, die christdemokratische KDU/ČSL sowie die ANO eine Koalitionsregierung und 2017 - 2021 wurde Babiš Premier zuerst einer Minderheits- und dann einer Koalitionsregierung mit der ČSSD.

Neben pragmatischen (ich werde das Land wie eine Firma führen) weist seine Politik wohl auch linkspopulistische Züge auf. Er ist gegen die Immigration, mäßig kritisch gegenüber der EU (Mitgliedschaft unumgänglich, doch keine weitere Integration), er hat die Steuer für breite Schichten gesenkt, im Parlament stimmte die ANO überwiegend gemeinsam mit den Kommunisten. Gleichzeitig lehnte er die Progressivsteuer ab und rechtfertigte die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Während seiner Zeit wuchs die Wirtschaft bis 2020 schneller als der EU-Durchschnitt, und das Vertrauen in die Regierung stieg auf beispiellose 40 %, um im nächsten Jahr mit der Corona-Krise auf 19 % zurückzufallen.

Der Widerstand gegen ihn richtete sich mehr gegen ideologische als realpolitische Themen. Er ist besonders ausgeprägt in jenen Kreisen, die der vorherige Präsident Zeman als das Prager Caféhaus beschrieb. Babiš wurde besonders die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei sowie seine nicht ganz eindeutig nachgewiesene Zusammenarbeit mit der Staatspolizei StB zur Last gelegt. 

Es waren 2021 keine Wahlen zwischen links und rechts, sondern für oder gegen Babiš. Und auch aus diesen ging seine ANO mit über 27 % der Stimmen als stärkste Partei hervor. Doch die Koalition der SPOLU (Gemeinsam) mit der neoliberalen ODS, der KDU/ČSL, der konservativen TOP09, den Piraten, sowie der regionalen STAN bekam einige Zehntel Prozent der Stimmen mehr. Weder Kommunisten noch Sozialdemokraten schafften es über die 5% Hürde ins Parlament.

Endlich ist die Linke draußen, endlich haben wir ein rechtes Parlament und eine rechte Regierung, jubelten viele. Doch die Begeisterung hielt nicht lange an. Die rechte Regierung Petr Fialas erwies sich rasch als außerordentlich inkompetent, konzeptionslos und arrogant. Staatsschulden, Energie- und Lebensmittelpreise, Inflation und Armut stiegen rasant, die reale Kaufkraft, der Lebensstandard wie auch die Wachstumsrate sanken. In mehreren Kriterien wies das Land die schlechtesten Werte innerhalb der EU aus. Politisch folgte die Regierung übereifrig den Interessen der USA und der israelischen Lobby. Es wurde Internetzensur versucht, politisch unbequeme Ansichten, Gruppen und Personen wurden diffamiert und auch offen verfolgt.

Ein Jahr nach ihrer Angelobung gab es zahlreiche Demonstrationen mit bis zu 70.000 Teilnehmern. Die Forderungen richteten sich gegen den Ukraine-Krieg und die Waffenlieferungen, gegen Armut, Energie- und Lebensmittelpreise, die Globalisten, gegen die hochverräterische Regierung des nationalen Verderbens. Ob diese mit 17 % Vertrauen der Bürger bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten wird, ist fraglich, zumal Petr Fiala mit seinen Aussagen, hinter den Demonstrationen der Bedauernswerten stünden prorussische Kräfte, weiter Öl ins Feuer gießt. Der nächste Wahlsieg von Andrej Babiš ist so gut wie sicher. 

Auf gegen Moskau!

Während der ersten zwei Regierungsjahre sind fünf der siebzehn Minister zurückgetreten. Um das negative Bild zu korrigieren, listete Premier Fiala im Oktober 2023 70 der wichtigsten Erfolge der Regierung auf. An oberster Stelle figurierten NATO, Verteidigung, Armee, Sicherheit, Abwehr gegen Russland, China und die Waffenindustrie. 

Tschechien habe chronische Probleme, deren Lösung die Autoritäten nicht angingen, sondern sich stattdessen in destruktiven außenpolitischen Aktionen engagierten, konstatierte ein Bericht des russischen Außenministeriums zur Lage der Menschenrechte im Oktober 2023. Wir entführen keine Kinder, bombardieren keine Krankenhäuser und besetzen keine Nachbarländer, antwortete Außenminister Jan Lipavský diplomatisch und empfahl Russland, aus der Ukraine abzuhauen.

Es sind in Tschechien gleich acht heimische und internationale Organisationen tätig, die Spenden für die Ukraine organisieren, doch über 70 % der tschechischen Hilfe bilden umfangreiche Waffenlieferungen – Panzer, Haubitzen, Flugzeuge, Hubschrauber, Raketen, Munition, Infanteriewaffen. 

Während die USA und andere Länder die Lieferungen von Streumunition an die Bedingung knüpfen, diese nicht außerhalb der Ukraine einzusetzen, verlangt Tschechien keine Einschränkungen. Als die Ukraine Ende Dezember 2023 die tschechische Streumunition gegen die russische Stadt Belgorod einsetzte, rief Russland eine dringende Sitzung des Uno-Sicherheitsrats ein und lud Tschechien zur Klärung ein. Doch Lipavský lehnte dies ab und Tschechien ignorierte die Sitzung sowie die Vorwürfe einfach.

Dieselbe Staatsanwaltschaft, die heimische Verbrechen gegen Roma und Sudetendeutsche während und nach dem 2. Weltkriege nie untersucht hat, hat nun eine Untersuchung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine eingeleitet.

Die Politik der Regierung Fiala lässt sich salopp als Vorbereitung zum Krieg zusammenfassen. Generalstabschef Karel Řehka mahnt an, sich auf einen NATO-Russland-Krieg vorzubereiten, und laut Verteidigungsministerin Jana Černochová befindet sich Tschechien bereits im Krieg mit Rußland. Die Armee rüstet auf, kauft schwere Technik und überlegt den Einkauf des offensiven F-35. Die neue Sicherheitsstrategie nennt Russland und China dezidiert als Gefahrenquelle und schreibt der NATO- und EU-Mitgliedschaft eine kritische Bedeutung zu.

Einen weiteren Schub bekamen die Kriegsvorbereitungen während der Präsidentenwahlen im Jänner 2023. Wie aus dem Nichts tauchte im Juni 2022 der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General Petr Pavel, als Kandidat auf. Der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, ohne Vernetzung im politischen Establishment, gewann er als reines PR-Produkt die Wahl gegen Andrej Babiš. Seine Positionen sind klar: Während des Krieges sollten die Sicherheitsmaßnahmen gegenüber russischen Staatsangehörigen erhöht werden, erklärte er im Juni mit dem Hinweis auf die amerikanischen Konzentrationslager für Japaner während des 2. Weltkrieges.

Das Pikante an dieser Wahl war, dass beide Kandidaten ehemalige Mitglieder der Kommunistischen Partei sind. Babiš wurde eine Zusammenarbeit mit der kommunistischen Geheimpolizei nachgesagt, während Pavel eine Spionageausbildung absolviert hat und Mitglied des Aufklärungsdienstes der Armee war.

Im Nahostkonflikt nimmt die tschechische Außenpolitik eine dezidiert proisraelische Stellung ein. Hamas ist unser gemeinsamer Feind, sagte Lipavský im Oktober 2023 im Oman. Die Tschechische Republik betrachtet Israel nicht nur als einen Freund, sondern als einen strategischen Partner, erklärte Präsident Pavel bei seinem Besuch in Israel im Jänner 2024.

Seine entschlossene Haltung an der Seite seines strategischen Partners bewies Tschechien am 12. Dezember 2023, als es in der UNO-Generalversammlung für die Fortführung des Gaza-Genozids stimmte - zusammen mit Österreich übrigens, als eines der zwei einzigen EU-Mitgliedsländer. Dies sind gerade zwei Länder, bei denen man punkto Genozids eine besondere Behutsamkeit erwarten könnte. Für die Verteidigungsministerin Jana Černochová war das Ergebnis 152:10 zugunsten des Waffenstillstands dermaßen inakzeptabel, dass sie gleich den Austritt Tschechiens aus der UNO verlangte.

Fazit

Von außen betrachtet kann man Tschechien als Land betrachten, welches neokonservativer als die Neocons und zionistischer als die Zionisten ist. Eine gewisse Anpassungsfähigkeit ist für die C(S)R seit der Unabhängigkeit 1918 durchaus charakteristisch. Die Tschechen waren eifrigste profranzösische Demokraten in der Zwischenkriegszeit, fleißige Arbeiter für das Reich während des Protektorats, dogmatischste Stalinisten nach 1948, treueste Realsozialisten nach 1968 und radikalste Neoliberale nach 1989. Zum Unterschied von Österreich und den westlichen Ländern, die seit dem 2. Weltkrieg keine größeren politischen Erschütterungen erlebten, wissen die Tschechen, dass jede politische Periode nur vorübergehend ist.

So ist es auch heute. Die Atmosphäre erinnert an die Sechziger- oder Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts: Eine sich schnell vertiefende Kluft zwischen dem Establishment, das verzweifelt versucht, sich durch übereifrige Gesten die Gunst des Hegemons und somit das eigene Überleben zu sichern. 

Erwartungsgemäß spielt sich der Widerstand – abgesehen von zahlreichen Demonstrationen – vor allem im Internet ab. Es ist in den letzten Jahren eine wahre Parallelkultur auf unzähligen Internet-Kanälen entstanden, die täglich Informationen, Dokumentationen, Analysen, Diskussionen, Fernseh- und Rundfunksendungen, Übersetzungen ausländischer, vornehmlich englischsprachiger Quellen, an den offiziellen Medien vorbei anbieten. Immer häufiger wird eine neue politische Ordnung und ein Neuer Staat thematisiert. Und – ein wichtiges Merkmal – die Grenzen zwischen den offiziellen und parallelen Strukturen verschwimmen zunehmend.

Das Establishment versucht fieberhaft, diese alternativen Informationskanäle zum Verstummen zu bringen. Im Februar 2022, zu Beginn des Ukraine-Krieges, blockierte der Verwalter tschechischer Internetdomänen NIC.cz auf Anweisung der Regierung acht Internetseiten, die angeblich prorussische Desinformation betreiben würden. Sowohl das Oberste Verwaltungsgericht als auch das Verfassungsgericht wiesen deren Klagen zwar ab, doch nach heftigen Diskussionen wurden sie im Mai wieder in Betrieb genommen. Für Zeitzeugen sind solche chaotischen, hilflosen Versuche, die Verbreitung regierungskritischer Positionen zu stoppen, ein Déjà-vu.

Geschrieben für die Zeitschrift International, I/2024, Seite 30