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Schließlich muss es jemanden geben, der dafür sorgt, dass sich die Menschen nicht gegenseitig bestehlen und töten, erläuterte mir die Notwendigkeit Gottes Anwar, libanesische Aramäerin. Und wenn du sicher wärest, dass er gerade nicht zuschaut, würdest do stehlen und töten? Nein, antwortete sie ohne zu zögern. Warum nicht? Sie dachte einen Moment nach. Es ist unter der Menschenwürde, sagte sie. Siehst du, gibt es nicht zuverlässigere Dinge als Gottes Aufsicht? konnte ich nicht ablassen.

Ich ging in einen Laden in Tschechien, um das überschüssige Material zurückzugeben. Dafür müssen Sie sich andere Ware aussuchen, überraschte mich die Dame in der Auskunft; in dem gleichen in Österreicher wird mir geraten, lieber mehr zu nehmen und zurückzugeben, was nicht verbraucht wird. Etwas habe ich mir ausgesucht. Aber der Rest wird Ihnen verfallen, warnte sie mich. Ja, um das haben Sie mir bestohlen, sagte ich. Wieso haben wir Sie bestohlen, ist sie ausgeflippt. Sie verkaufen, wofür ich bereits bezahlt habe. Ihre Kasse stimmt nicht. Sie dachte einen Moment nach, dann schrieb sie mir eine Gutschrift. Ausnahmsweise, konnte sie nicht ablassen. Ausnahmsweise haben sie mich nicht bestohlen.

Ein Richter des Stadtgerichts in Prag verurteilte den Angeklagten, weil er aus dem Geldautomaten mehr abhob, als er auf seinem Konto hatte. Die Argumente, dass der Bank kein Schaden entstanden sei, weil ihr gleichzeitig eine Forderung entstand, ja dass sie sogar den Profit aus dem verrechneten Zins kassieren wird, waren ihm zu abstrakt. Der Angeklagte ging mit Banknoten weg, die ihm nicht gehörten, also bestahl er die Bank. Punkt.

Nach welcher Ethik richtet sich eine Gesellschaft, die den Diebstahl nicht erkennt?

Glück und Gutes

Im antiken Griechenland war Ethik eine Lehre davon, wie man das Glück erreichen kann. Das Eudaimonium verbanden die Griechen jedoch weniger mit einer Lotterie als mit dem Arethe, einer umfassenden körperlichen, geistigen, bürgerlichen und moralischen Vollkommenheit. Von Homer, Sokrates und Aristoteles wurde das Ideal des Glücks in der Vollkommenheit vom antiken Rom übernommen. Er hielt, bis das Glück durch den christlichen Gehorsam ersetzt wurde und Rom für Jahrhunderte in die Barbarei verfiel.

Sein antikes geistiges Erbe hat das christliche Europa erst mit den Kreuzzügen gegen den Islam wiederentdeckt, der es bewahrt und weiter entwickelt hat. Technik, Mathematik, Landwirtschaft, Naturwissenschaften, Medizin, Philosophie kamen wohl zugute, doch für einen selbstbewussten Bürger gab es keine vernünftige Verwendung. Als nützlicher erwies sich die Zarathustras Dualität des guten Gottes Ahura Mazda und des bösen Gottes Ariman. Zu dem ethischen Grundprinzip wurde der Kampf des Guten gegen das Böse emporgehoben.

Während es mit dem Bösen kaum Probleme gibt, die Obrigkeit zeigt darauf jeweils rechtzeitig, als harter Nuss erwies sich das Gute. Freilich verüben wir es, doch wovon besteht es? Generationen von Denkern haben sich mit dem guten Leben den Kopf zerbrochen, mindestens so lange es darum ging, die christliche Liebe durchs Vertilgen von Heiden, Muslime, Ketzer und Hexen zu verbreiten. Als sich die christlichen Kirchen selbst gegenseitig in die Haare griffen und jede das Gute für sich und das Böse für die andere beanspruchte, hat der Sexappeal des Kampfes des Guten gegen das Böse merklich nachgelassen.

Eine nichtreligiöse, aufklärerische Definition des Guten formulierte Immanuel Kant. Sein kategorischer Imperativ in der vereinfachten Form lautet: Handle immer so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zu allgemeinem Gesetz werden kann. Meine Großmutter, die ihn ganz sicher nicht gelesen hat, kam auf dasselbe von selbst. Stell dir vor, wenn das alle tun würden, hat sie mich getadelt. Trotz der Unbestimmtheit von Maximen sowie dem Ausschluss von Liebe und Freundschaft ist das Postulat der Allgemeinheit ein fester Bestandteil der Ethik geblieben.

Die industrielle Revolution brauchte jedoch eine greifbarere und praktischere Orientierung. Sie fand sie im Utilitarismus: den größten Nutzen für möglichst viele Teilnehmer. Wirtschaftswachstum, steigender Lebensstandard, die Eroberung von Kolonien, Sklaverei, ein erfolgreicher Bankraub oder der Vorrang vieler Autofahrer vor einem Rettungswagen sorgen für den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele Teilnehmer und sind daher gut. Eine alternative Definition, die dem Profit zu nahe stehendes Nutzen meidet, lautet: möglichst viel Glück für möglichst viele Menschen.

In der Praxis wurden jedoch die moderne Weltsicht sowie ihre Ethik vom Markt geprägt. Das Leben ist ein erbarmungsloser Konkurrenzkampf der Arten ums Überleben, der Produzenten um die Märkte, der Klassen um die Produktionsmittel, der Nationen um die Selbstbestimmung, der Staaten um den Lebensraum, der Rassen um die Vorherrschaft. Der Einzelne ist durch seine Zugehörigkeit zu dem Ganzen bestimmt, und es ist seine moralische Pflicht, selbstlos zu dessen Nutzen beizutragen. Das ethische Maximum besteht darin, tapfer für den Sieg Unserer zu kämpfen und Fremde zu töten. Zig Millionen Menschen bewiesen in den beiden Kriegen ihre höchsten moralischen Qualitäten, indem sie ihr Leben zum Wohle ihres Ganzen opferten.

Als fast alle begraben waren, wurde es klar, dass dies nicht der richtige Weg ist. Die Aufmerksamkeit ist von dem Ganzen auf den Einzelnen, seine Rechte und seine Würde abgelenkt. Auch diese beruft sich auf Kant: Der Mensch als Zweck an sich darf nie nur Mittel zum Zweck sein. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie eine ganze Reihe von Abkommen über bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte des Einzelnen sind zu internationalen ethischen Normen geworden.

Doch die eigene Würde und die Würde anderer sind verbundene Gefäße. Andere zu demütigen heißt gleichzeitig, die eigene Würde zu verlieren. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die verschiedenen benachteiligten Minderheiten - sexuelle, nationale, gesundheitliche, rassische, ja sogar auf die weibliche Mehrheit. Das Prinzip der politischen Korrektheit verlangt, Ausdrücke und Phrasen, die die Würde anderer verletzen könnten, durch neutrale zu ersetzen – manchmal ziemlich autoritativ und mit bizarren Schlussfolgerungen. Der Respekt vor anderen endet nicht bei den Menschen. Auch Tierrechte werden formuliert und erweitert, und die Weigerung, Tiere als Mittel zum Zweck zu betrachten, führt zur Verbreitung von Vegetarismus und Veganismus.

In den letzten Jahrzehnten hat der Westen eine konsequente Wende vom Ganzen zum Einzelnen in der Form des Neoliberalismus durchgezogen, der die Grundtugend im Reichtum erkennt. Der Mensch ist Homo Oeconomicus, er trifft rationale Entscheidungen je nach dem, was ihm den größten Nutzen bringt. Reichtum ist das Ergebnis von Fleiß, Bildung und Können; Armut ist das Ergebnis von Faulheit, Ignoranz und Inkompetenz. Die Armen sind selber schuld. Die wachsende Vermögensungleichheit ist nicht nur eine logische, sondern auch eine natürliche, wünschenswerte und gerechte Konsequenz. Reichtum wird schließlich auch zu den Armen tropfen, also entspricht dies der Ethik des Utilitarismus. International findet die neoliberale Ethik ihr Pendant in der neokonservativen Ethik der Weltführung.

Emotionen

Inzwischen hat die Ethik auch das Interesse der Wissenschaft erweckt. Beim Ultimatum Experiment erhält eine zufällig ausgewählte Person einen finanziellen Betrag, sofern eine andere zufällig ausgewählte Person zustimmt. Die Zustimmung kann durch das Angebot eines Anteils ohne Verhandlung eingeholt werden. Homo Oeconomicus ist mit jedem Angebot ungleich Null zufrieden; selbst ein Cent ist immer noch mehr als kein. Überraschenderweise lehnen jedoch lebende Menschen Angebote unter einem Anteil von 30-50 % ab, und zwar quer durch demografische und kulturelle Unterschiede. Amerikanische Wissenschaftler fanden als Erklärung für dieses Fiasko des grundlegenden neoliberalen Axioms die altruistische Bestrafung: Die Menschen sind bereit, ihren eigenen Profit zu opfern, nur um die Gierigen zu bestrafen. (Ich würde eine eher europäische Erklärung bevorzugen: Die angebotene Quote drückt auch eine Wertschätzung aus; ein niedriges Anteil anzunehmen ist entwürdigend. Nicht die Bestrafung des Anderen, sondern der eigene Stolz ist das Motiv. Es wird Gleichwertigkeit erwartet, obwohl dem Bieter ein gewisser Rollenbonus zuerkannt werden kann.)

In den moralischen Präferenzen ließen sich jedoch kaum allgemeine Regeln feststellen. Die Leute sind launisch. Sie helfen eher vor einer duftenden Bäckerei als vor einem Eisenwarengeschäft, öfter, wenn sie gerade zufällig eine Münze fanden. Aufschlussreich ist das Straßenbahnexperiment: Eine unkontrollierte Straßenbahn rast in einer engen Gasse auf zwei Arbeiter zu und wird sie zweifellos töten. Im ersten Szenario gibt es eine Seitengasse, in der nur ein Arbeiter arbeitet, sowie eine Weiche. Die überwiegende Mehrheit der Befragten würde die Weiche umlegen und somit zwei Leben zum Preis von einem retten. Im zweiten Szenario steht der Befragte auf einer Brücke über die Gasse und neben ihm ein dicker Mann. Wenn er ihn hinunterwirft, stirbt der Mann, doch die Straßenbahn hält auf ihm. Die große Mehrheit der Befragten weigert sich, ihn hinunter zu werfen, obwohl sie wie im ersten Szenario zwei Leben zum Preis von einem retten würde. (Ich würde mich auf Kant berufen: den Menschen als Mittel zum Zweck zu verwenden, ist uns zuwider.)

Gleichzeitig lässt sich jedoch nicht behaupten, dass ethische Normen völlig willkürlich seien. Der viertausend Jahre alte sumerische Kodex aus Ur-Namm, der dreitausend Jahre alte Chammurapi-Kodex oder die zweieinhalbtausend Jahre alten Zehn Gebote verbieten dieselben Handlungen wie das heute geltende Strafgesetzbuch - Mord, Raub, Diebstahl, Körperverletzung, falsche Beschuldigung. Obwohl ungeschrieben, finden wir sie in allen Naturgesellschaften. Manche erklären dies mit der allgegenwärtigen Vorsehung Gottes.

Doch es lässt sich auch damit erklären, dass der Schutz vor bestimmten Handlungen eine notwendige Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. In der Liste der Taten, die spontan negative Emotionen einer Ungerechtigkeit quer durch die Geschichte und Kulturen hervorrufen und die alle menschlichen Rechtssysteme, geschrieben oder ungeschrieben, bestrafen, lässt sich ein gemeinsames Prinzip erkennen: Es ist unzulässig, sich Nutzen durch Beschädigung Anderer zu besorgen.

Unser angeborenes moralisches Gefühl ist ein evolutionäres High-Tech-Produkt aus Hunderttausenden Jahren des Lebens in den Jäger- und Sammlerhorden. Obwohl wir gerne das Gegenteil glauben, sind wir nicht viel intelligenter als viele andere Lebewesen, dazu sind wir schwach und langsam. Unsere dominante Stellung verdanken wir nur einer Eigenschaft: der außerordentlichen Kooperationsfähigkeit. Daraus leitet sich die Arbeitsteilung, die Sprache, die Ansammlung von Erfahrungen und Fertigkeiten, die Kultur, die Zivilisation ab. Unsere Emotionen nach ihrer Funktion für das Überleben der Horde zu analysieren, sagt uns über uns und unsere Probleme viel mehr als das Tüfteln, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei.

Wir empfinden die höchste Zufriedenheit, wenn unsere kreative Selbstverwirklichung durch Anerkennung anderer belohnt wird. Das Vertrauen, dass ich etwas bieten kann, was andere schätzen, ist die Grundlage für soziales Selbstbewusstsein – oder Würde, um Anwar und Kant zu erinnern. Wir sind zufrieden, wenn auch andere zum Zusammenleben beitragen und schätzen sie dafür. Umgekehrt, wenn jemand zu Lasten anderer profitiert, macht uns das spontan über Ungerechtigkeit wütend. Dies ist, kurz gefasst, der emotionale Rahmen unseres ethischen Wahrnehmens. Seine Funktion besteht darin, den Zusammenhalt der Horde aufrechtzuerhalten und ihr Überleben und ihre Fortpflanzung zu sichern. Diejenigen, die dabei versagten, hinterließen keine Nachkommen.

Die Muster, die sich durch Hunderttausende Jahre des Lebens in kleinen Familiengruppen bewährt haben, bewähren sich im Prinzip auch in großen anonymen Gemeinschaften. Wir genießen die Gesellschaft anderer und haben Angst vor der Einsamkeit. Wir tauschen gerne Erfahrungen und Meinungen mit anderen aus. Wir können ihre Gefühle und Motive empfinden und ihre Freuden und Sorgen teilen. Es befriedigt uns, wenn sie uns anerkennen und frustriert uns, wenn wir keine Anerkennung erfahren. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir gemeinsam viel mehr erreichen können als alleine. Es macht uns wütend, wenn jemand Anderem wehtut. Wir hassen es, wenn jemand anderen zu seinem eigenen Vorteil schadet. Wir empfinden Mitgefühl, wenn jemand leidet. Wir machen gerne andere glücklich und haben den Drang zu helfen, wenn jemand in Schwierigkeiten gerät. Wir sind entschlossen, die Unseren zu verteidigen, trotz Risiko und Opfer.

Doch wir haben auch einen vorprogrammierten Modus für Situationen der Bedrohung unserer Horde. Wenn wir in ihm umkippen, werden unsere Emotionen vom Hass auf den Feind überwältigt. Er will uns schaden, uns bestehlen und berauben, unterwerfen, versklaven, zerstören. Alles, was er sagt und tut, ist nur ein Angriff, auf den wir mit einem noch härteren Gegenangriff reagieren müssen. Das ist die einzige Sprache, die er versteht. Jedes Zögern würde er als unsere Schwäche ansehen und sich hinter unserem Rücken über uns lustig machen. Verständnis, Sympathie, Mitgefühl sind ihm gegenüber unzulässig, es würde ihn nur stärken und unseren Kampfwillen schwächen. Der Feind ist kein gleichwertiger Partner, sondern ein Schädling, der die menschlichen Züge vermisst. Man darf mit ihm kein Erbarmen haben. Im Gegenteil, er muss geschädigt, beklaut, ausgeraubt, unterworfen, versklavt, zerstört werden. Allein die Vorstellung erweckt schon eine tiefe Befriedigung.

Der Wechsel vom kooperativen in den Kampfmodus ist schnell, leicht und unbewusst, es genügt nur das Gefühl von Verlust und Bedrohung oder die Perspektive einer Beute. Beide sind dankbare und weit verbreitete Manipulationsmittel; divide et impera, teile und beherrsche. Ich wage die Hypothese, dass die Überzahl unserer reichen Hassgefühle absichtlich und gezielt hervorgerufen wurde.

Das Umkippen in die entgegengesetzte Richtung ist langsam, schwierig und erfordert üblicherweise eine Vermittlung. Je nach bisherigem Konfliktablauf gibt es Rituale der gegenseitigen Versöhnung, Klärung und Vergebung oder Rituale der Schuldanerkennung, Entschuldigung, Entschädigung, der Sündenböcke. Beachten wir, dass eine Versöhnung, die von Anfang an auf der Unterwerfung der Anderen beruht, den Keim eines neuen Konflikts enthält.

Der Leser mag argumentieren, dass doch die Menschheitsgeschichte eine Geschichte von Ungerechtigkeiten, Ausbeutung, Kriege und Revolutionen ist, dass der Kampfmodus der Normalzustand sei, während Phasen der Kooperation und Koexistenz eher die Ausnahme darstellen. Dies ist jedoch der Trugschluss der Berichterstattung – einschließlich der Geschichtsschreibung. Natürlich wird hauptsächlich über Konflikte und revolutionäre Ereignisse berichtet. Über die friedlichen Zeiten zwischen ihnen, über das mehr oder weniger geordnete Leben abseits der Schlachtfelder, über den Frieden in der unbeteiligten Mehrheit der Welt gibt es nicht viel Interessantes zu berichten. Trotz aller Kriege und Revolutionen, der unbestreitbare Anstieg der Werte des menschlichen Lebens und der Menschenwürde seit dem Mittelalter, ja seit dem letzten Weltkrieg bis in die Gegenwart ist notwendigerweise das Ergebnis einer kooperativen und nicht konfliktvollen Entwicklung. Sogar extreme Konflikthandlungen wie Kriegszüge sind nur unter engster Zusammenarbeit und Koordination möglich.

Die Dualität von Gut und Böse sagt uns über die Ursachen sozialer Dysfunktionen nicht viel. Es ist nützlicher, vom Grundzustand des funktionellen Gleichgewichts auszugehen und zu überlegen, wodurch es gestört werden kann. Wie ich glaube, mindestens zwei unserer angeborenen emotionalen Muster, die sich im übersichtlichen Umfeld kleiner Gruppen bewährt haben, sind in großen anonymen Gemeinschaften problematisch. Das dritte Problem ist der Arbeitsteilung immanent, zumindest in ihrer kapitalistischen Form.

Status

Unser Bedürfnis nach Geltung und Anerkennung geht einher mit dem Bedürfnis, um den Status als Zeichen dauerhaften Respekts zu wetteifern. In einem Tierrudel zeigt es sich typischerweise als Kämpfe um die Führung, Fressordnung, um das Paarungsrecht. Beim Menschen sind die Erscheinungsformen subtiler, doch ebenso allgegenwärtig - von freundlichem Necken, Spiel und Sport bis hin zu Kämpfen um Autorität, Reichtum und Macht.

Meine Vorstellungen davon, wie mich andere bewerten und welchen Status sie mir einräumen, gehören zu den emotional stärksten Motivationsfaktoren. Das Selbstwertgefühl kann vom Glauben an die eigene Einzigartigkeit und Überlegenheit bis hin zu Gefühl der Wertlosigkeit und Minderwertigkeit reichen, nicht selten zwischen ihnen schwankend. Komplexe Gemeinschaften bieten freilich der Wettbewerbslust zahllose Gelegenheiten. Ein Spitzenarzt hat kein Bedürfnis, eine goldene Schallplatte zu bekommen, ein erfolgreicher Manager versucht nicht, in der ersten Liga zu kicken, ein geschickter Tischler träumt nicht vom Publizieren in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Schwester ist klüger und ich bin stärker, stellte mit Genugtuung mein siebenjähriger Neffe fest.

In der Horde findet der Statuswettbewerb üblicherweise in einer ritualisierten Form und nach festgelegten Regeln statt. Zum Funktionieren und Zusammenhalt gehört er, sein Zweck ist es, Strukturen zu stabilisieren, Führungspersönlichkeiten zu bestimmen und der Reproduktion Tüchtiger Vorrang einzuräumen. Doch gleichzeitig unterliegen die Ambitionen einer gesellschaftlichen Kontrolle. Die Balance zwischen dem persönlichen Beitrag und der Wertschätzung ist eine Selbstverständlichkeit, auch die weniger begabten finden eine angemessene Betätigung und Anerkennung. Solidarität und die Gewissheit, dass ich nicht ausgeschlossen werde, sind Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Eine ernste Polarisierung findet in dem übersichtlichen Umfeld und unter der gegenseitigen Abhängigkeit selten statt. Doch selbst dann bleibt nur zu deeskalieren und das Gleichgewicht wieder herzustellen – oder die Horde aufzuspalten, zu reproduzieren. Es gibt Gemeinschaften, die tausende und zigtausende Jahren stabil funktionieren.

Große anonyme Gemeinschaften haben gegen Eskalation der Statuskämpfe keinen wirksamen Schutz. Es fehlt an persönlichem Kontakt, an gegenseitigen Abhängigkeiten, an respektierter neutraler Autorität, an sozialer Kontrolle, an Ritualen der Versöhnung. Die Statuskonflikte werden sogar noch verschärft. Der persönliche Beitrag sowie Respekt und Anerkennung sind alles andere als selbstverständlich. Der Einzelne muss erhebliche Anstrengungen unternehmen, um im Wettbewerb überhaupt etwas bieten zu können und einen angemessenen Status zu verteidigen. Nicht jedem gelingt es. Und der verweigerte Status ist ein Gift, das die Gemeinschaft von innen heraus zersetzt.

Einerseits führt es zum gewaltsamen Erzwingen des Respekts oder zum Machtersatz; lass uns darunter neben der institutionellen Macht auch Reichtum, Popularität, Einfluss, Stärke, körperliche und sexuelle Gewalt, Entscheidung über Leben und Tod mit einschließen. Die Folgen der Frustration sind die Verweigerung der Anerkennung gegenüber anderen, Verzweiflung, Intrigen, Mobbing. Das Gefühl, dass ich nichts Positives beitragen kann, kann durch einen negativen Beitrag kompensiert werden – Verleumdung, Vorwürfe, Schädigen; eigene Bedeutungslosigkeit ruft ein panisches Entsetzen hervor. In einer Kettenreaktion können sich ganze Gemeinschaften von oben bis unten in eine sehr unglückliche, feindselige und instabile Umgebung verwandeln.

Besonders gefährlich sind Psychopathen, Menschen mit einem morbiden Bedürfnis, Macht über andere auszuüben. Sie sind in der Lage, ihre Umgebung zu manipulieren, um die höchsten gemeinschaftlichen Positionen zu erreichen. Extrem ambitionierte Individuen und Psychopathen sind in Führungspositionen keine Ausnahme, sondern eher die Regel. Das ultimative Ziel ist eine Weltherrschaft, wie sie beispielsweise amerikanische Neokonservative in ihrem Programm haben.

Andererseits bedrohen Gefühle von Frustration, Ausgrenzung, Entfremdung, Selbstwertlosigkeit, Feindseligkeit und Hass den Zusammenhalt und die Loyalität der gesamten Gemeinschaft. Wenn es für manche in der Mehrheitsgesellschaft keinen Platz gibt, haben sie auch keinen Grund, sich deren Regeln unterzuziehen. Diese erfordert jedoch ihre Einhaltung auch von derjenigen, die sie selbst ausschließt, und der fehlende Anpassungswille ist nur ein weiterer Ausschlussgrund. Die Spirale von Ausgrenzung, Frustration, Delinquenz und Repression bildet in den nicht-solidarischen Gemeinschaften eine permanente tektonische Linie. Den verweigerten Respekt zu erzwingen und die Macht über andere zu erlangen ist nur in einer Gruppe möglich, sodass die Kontrolle über ausgeschlossene Gemeinschaften in der Regel von gewalttätigen Banden übernommen wird.

Das Bedürfnis nach Anerkennung und Status ist nicht nur den Einzelpersonen eigen, sondern auch den gesamten Gemeinschaften, einschließlich der Überzeugungen über die eigene Auserwähltheit und Überlegenheit oder Demütigung und Knechtschaft. Wenn äußerlich erkennbare physiologische Merkmale wie der Melaningehalt in der Haut zum Indikator werden, entstehen große Gemeinschaften mit unterschiedlichem Status, die als Rassen bezeichnet werden. Während die Genetik die Existenz biologischer Rassen endgültig widerlegt, führt die soziale Dynamik von Ausgrenzung, Frustration, Delinquenz und Repression zu ihrer unausweichlichen kulturellen Befestigung. Die Entbehrung ganzer Gemeinschaften kann globale Folgen haben. Mussolini, die japanische Generalität oder Hitler gründeten ihren Aufstieg auf dem Versprechen, die Würde und das internationale Ansehen ihrer demütigten Nationen wiederherzustellen.

Für ein Beispiel der eskalierenden Polarisierung, die selbst die Grundlagen der Gemeinschaft bedroht, braucht man nicht weit zu gehen. Die Zunahme sozialer Ungleichheit als Folge des neoliberalen Wandels geht einher mit einer exponentiellen Zunahme von Armut, Frustration und Gewalt. Während es in den 1970er Jahren in den USA 18 Fälle von Schulschießereien gab, waren es in den 1990er Jahren 67 und im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts 218. Parallel gibt es eine tiefe rassische, ideologische und politische Polarisierung, die mit jedem neuen Präsidenten nur noch verstärkt wird. Kommen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten in Folge des Krieges gegen den Terror und weiter verschärft während der Corona-Pandemie dazu, reicht jeder Funke aus, um Unruhen auszulösen. Ich kann mir nicht vorstellen, was eine weitere Eskalation verhindern und den nationalen Zusammenhalt noch retten könnte.

Identität

Das zweite problematische emotionale Muster ist die Dualität unsere fremde; die Selbstverständlichkeit, wo ich hingehöre, für wen und gegen wen ich bereit bin zu kämpfen. Im Leben einer Horde machen solche Überlegungen keinen Sinn. Die Zugehörigkeit ist eindeutig und allumfassend – Vorfahren, Verwandtschaft, Sprache, Tradition, Götter, Technologie, Siedlung, Territorium, das alles sind wir. Jede andere Horde sind sie.

Mit der neolithischen Revolution entsteht eine materielle und soziale Ungleichheit, doch kaum Identitätsdilemmata. Eines der ersten Beispiele dafür, wie Identität nicht mehr selbstverständlich, sondern durch freien Willen bestimmt wird, ist Arminius, Kommandant der germanischen Einheiten des römischen Heeres, der beschloss, zu seinen Ursprüngen zurückzukehren und als Anführer der germanischen Stämme die römischen Legionen zertrümmerte. Im Mittelalter waren die Menschen durch Islamisierung und Christianisierung einem gewaltsamen Identitätswandel unterworfen. Viele vermeiden es, indem sie zum Judentum konvertierten. Jahrhunderte später stehen ihre Nachkommen wieder vor der Wahl zwischen Christianisierung, Auswanderung oder Tod. Und die Christen selbst stehen bald vor der Wahl einer katholischen oder protestantischen Identität.

Mit der Aufklärung differenzieren sich die Identitäten weiter. Zu den immanenten Identitätsmerkmalen wie Sprache, Region, Religion, soziale Schicht kommen weitere, optionale Merkmale wie Weltanschauung, Überzeugungen, politische Orientierung hinzu. Die traditionelle Herren-Untertanen Unterscheidung wird durch neue ergänzt, wie Glaube–Wissenschaft, Adel–Bürger, Monarchie–Republik, Zentrismus–Autonomie, Offenheit–Tradition, Kollektiv–Individuum, rechts–links. Es wäre möglich, sie als ein kontinuierliches Spektrum zwischen zwei Polen, als Abweichungen vom Gleichgewichtswert oder als komplementäre Komponenten eines Ganzen zu betrachten. Es wäre möglich, die Vielfalt zu begrüßen; schließlich sind die Meinungen dazu da, um sich zu unterscheiden. Unsere Gene zwingen uns jedoch eine Stammeswahrnehmung auf: diejenigen, mit denen wir übereinstimmen, sind die Unseren, andere sind die Fremden. Die nach außen durch die üblichen Staats- und Volksattribute definierte Gemeinschaft wird somit nach innen weiter in Gruppen, Stämme, Sekten und Parteien gegliedert, die durch Meinungen, Interessen und politische Orientierung bestimmt werden.

Gute Beziehungen der Horde mit den Nachbarn sind unabdingbar. Ohne den Austausch von Frauen würde sie genetisch verkommen. Handel und kultureller Austausch sind unverzichtbar; die Salzpfade durchqueren Europa zehntausende Jahre vor den Anfängen der Landwirtschaft. Jede Gruppe verfügt über spezifisches Wissen und Know-how, das sich durch den Kontakt verbreitet und sich bei der Entstehung von Kulturen ansammelt. Gute Beziehungen sind eine Versicherung, in Hungerzeiten kann eine Hilfe der benachbarten Horde die letzte Rettung sein. Allianzen sind unerlässlich, sei es zur Verteidigung oder zur Beute. Eine Horde, die ihre Beziehungen zu anderen nicht im Griff hat, ist früher oder später zum Aussterben verurteilt.

All dies hat in den großen anonymen Gemeinschaften nur sehr begrenzte Gültigkeit. Die emotionale Wahrnehmung einer Stammeszugehörigkeit zu den Unseren folgt alten Mustern, doch unter neuen Bedingungen. Die Fremden sind keine Nachbarhorde, mit der man gute Beziehungen pflegen sollte, sondern diejenige, die gegensätzliche Interessen und Meinungen vertreten und daher a priori Feinde sind, gegen die wir uns in einem permanenten Kampfmodus befinden. In der Regel ist im Zusammenhang mit Identitäten vom Nationalismus die Rede, dem die Kriege der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zugeschrieben werden. Dabei werden zum Beispiel die soziale Klassenidentität, auf deren Grundlage in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Welt geteilt wurde, oder die religiöse Identität, die bisher Quelle der tödlichsten Konflikte überhaupt war und wieder an Bedeutung gewinnt, übersehen.

Für die Pluralität und Widersetzlichkeit von Identitäten hat sich ein Modus vivendi in der parlamentarischen Demokratie gefunden, der den größten Horden eine Arena, Regeln und einen ritualisierten Wettbewerb zur Verfügung stellt. Dennoch wird die gegenseitig feindliche Abgrenzung sowie der Konkurrenzcharakter eines Nullsummenspiels immer wieder zur Quelle von Dysfunktionen. Der Nutz einer Horde deckt sich nicht mit dem Nutz der Gemeinschaft. Das Interesse liegt darin, so viel wie möglich für die Unseren zu gewinnen, und das geht nur auf Kosten Anderer. Das wirksamste Instrument stellt Geld dar, das durch den Austausch gegen Dienstleistungen angeschafft werden kann. Die Politische Korruption ist somit weniger ein Ausdruck der Unmoral von einzelnen Politikern als vielmehr ein immanenter Bestandteil des Systems. Der überproportionale Einfluss finanzstarker Gruppierungen und Einzelpersonen kehrt damit den ursprünglichen Demokratiebegriff ins Gegenteil um.

Das sind Beziehungs- und Handlungsmuster, die die parlamentarische Demokratie in das zivile Leben ausstrahlt. Wenn die Spannung zwischen den dominierenden Parteien eine kritische Grenze überschreitet, wird die ganze Gesellschaft in den Konflikt hineingezogen. Keine Gruppe hat die Möglichkeit, ihm zu entkommen, zu gehen, sich anderswo niederzulassen. Das Ergebnis ist meist der Zerfall der Gemeinschaft oder der Sieg einer Horde und die Unterwerfung anderer. Die deutsche und die tschechoslowakische Erfahrung eines parlamentarischen Wechsels von einer demokratischen zu einer autoritären Ordnung wiederholt sich in einer Reihe von Ländern, wobei der Ausgang in den USA noch nicht absehbar ist. Unnötig zu erwähnen, dass die Herrschaft durch Macht und Gewalt keinen nachhaltigen Zustand darstellt.

Monopoly

Für letzteres verwende ich mein älteres Beispiel mit der Semmel: Angenommen, ich backe sie selbst und das Stück kommt mich auf zwei Euro. Der Bäcker kann es besser und das Stück kommt ihn auf fünfzig Cent. Wenn ich also die Semmel für ein Euro bei ihm kaufe, habe ich Ware bekommen, für die ich sonst zwei ausgeben würde, ein Euro habe ich also erspart. Auch der Bäcker verdient fünfzig Cent. An den Tagen, an denen ich die Semmel bei ihm kaufe, haben der Bäcker und ich zusammen ein Euro fünfzig mehr als an den Tagen, an denen ich sie selbst backe.

Die Quelle unseres Profits ist die Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung und wird durch Tausch realisiert. An den insgesamt ein Euro fünfzig Gewinn ändert sich nichts, auch wenn er mir die Semmel für fünfzig Cent verkauft und selbst nichts verdient, oder für zwei Euro und ich nichts gespart habe, ja sogar wenn ich ihm die Semmel stehle oder wenn er mir für eine Fünf-Euro-Note nichts zurückgibt. Die Gewinnsumme bleibt immer gleich, der Unterschied liegt nur in ihrer Verteilung. So wie ich so viel wie möglich sparen möchte, möchte auch der Bäcker so viel wie möglich verdienen. Es lässt sich verallgemeinern, dass wir versuchen, so wenig wie möglich in Austausch und Kooperation zu investieren und so viel wie möglich daraus zu machen. Wie uns jeder Wirtschaftsstudent erklären würde, der Endpreis und damit die Gewinnverteilung werden letztlich gerecht durch die unsichtbare Hand von Angebot und Nachfrage bestimmt.

Am Rande der Stadt entstand eine vollautomatisierte Großbäckerei. Für die fünfzig Cent des Bäckers backt sie zwei Semmeln und für fünfzig Cents verkauft sie das Stück. Dies erhöht unseren gemeinsamen Gewinn aus der Produktivitätssteigerung auf ein Euro fünfundsiebzig pro Stück, davon ein Euro fünfzig für mich, hei! Der Bäcker schloss und mit ihm alle anderen, der gesamte Gewinn fliest nun dem Eigentümer der Großbäckerei zu. Es besteht keine Konkurrenzgefahr, eine Investition in eine zweite Großbäckerei in der Stadt wäre sinnlos. Schrittweise kann er den Preis anheben und die Stadtpolitiker davon überzeugen, dass kleine Bäckereien aus hygienischen Gründen nicht zugelassen werden sollen.

Den Prozess der Eigentumskonzentration kennt der Leser von dem Spiel Monopoly. Mit jeder Runde erhält jeder Spieler einen finanziellen Beitrag, sodass das Gesamt-BIP kontinuierlich anwächst. Das Geld wird jedoch nach und nach von einigen Spielern eingesammelt, andere fallen nacheinander aus und das Spiel endet, wenn alles Geld zu einem einzigen Gewinner gewandert ist.

Monopoly ist das Modell des Marktkapitalismus. 2016 besaßen bereits acht Männer das gleiche Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit zusammen, und die Konzentration geht weiter. Sogar eine wirtschaftliche Rezession ist eine Gelegenheit, das eigene Reichtum zu vermehren; während der Coronakrise 2020 wuchs das Vermögen der Reichsten um weitere 700 Milliarden Dollar, und Jef Bezos, der Besitzer des Amazonas-Imperiums, wurde zum ersten Billionär. Das Spiel entwickelt sich logischerweise zu dem Schluss, indem die ganze Welt, einschließlich acht Milliarden Sklaven, einem einzigen Gewinner gehört.

Die Unterschiede zwischen dem Modell und der realen Welt bestehen darin, dass es für die Teilnehmer kein Spiel ist, dass sie sich ihm nicht freiwillig angeschlossen haben, dass sie mit seinen Regeln und seinem Ablauf immer weniger einverstanden sind und dass es nicht zum Ende kommen wird. Die Frage ist nicht ob, sondern wer, wann, wie und womit das Spiel stoppt, die Regeln ändert und das Eigentum neu verteilt. Es kann schrittweise durch Reformen oder plötzlich durch eine Revolution geschehen.

Das wissen auch die aktuellen Gewinner und ihr Interesse ist es, das Unvermeidliche auf später zu verschieben. Gleichberechtigung aus den ersten Runden wird zum Hindernis, Eigentumskonzentration lässt sich keinesfalls durch demokratische Entscheidungen rechtfertigen. Die Gewinner sind vor dem wachsenden Unmut anderer zu schützen und diesen umzuleiten. Es gilt, die anderen in feindliche Horden zu spalten und gegeneinander auszuspielen, Bedrohungen von innen und außen zu konstruieren, Hass zu wecken und zu lenken, Menschen mit dramatischen Ereignissen zu beschäftigen, Freiheiten einzuschränken, die Kontrolle zu stärken, die Medien zu lenken, die Fakten zu verschleiern, Kritiker zu diskreditieren und die Verbreitung gefährlicher Ideen zu verhindern. Für den Anfang.

Falls der Leser darin Verschwörungstheorien erkennt, hat er wahrscheinlich selbst andere realistische Empfehlungen für die Gewinner parat, wie sie sich eine weitere ungestörte Anhäufung von Eigentum vor den Anderen sichern können.

Fazit

Nach all diesen Überlegungen muss ich Anwar zustimmen: Die zuverlässigste Garantie dafür, dass Menschen nicht stehlen und sich umbringen, ist die Menschenwürde. Die Mutter Evolution hat uns einen umfassenden und bewährten emotionalen Apparat zur Verfügung gestellt. Seine Grundlage ist die eigene Selbstverwirklichung, die durch die Anerkennung anderer belohnt wird. Dies vermittelt ein grundlegendes Gefühl von Zufriedenheit, Selbstbewusstsein und Sinn, oder – bezogen auf die ursprüngliche Bedeutung von Ethik – das Glück. Disputationen über das Kollektiv oder das Individuum (links oder rechts) ignorieren diese Komplementarität. Ein Individuum ist Teil eines Ganzen, das aus Individuen besteht. Sie können nicht voneinander getrennt und gegeneinander ausgespielt werden.

Ein Nutzen durch Schädigung anderer zu ziehen kann Befriedigung aus der eigenen Geschicklichkeit, Freude am Gewinn, Stolz auf das Erreichte hervorrufen, schließt jedoch das Gefühl von Selbstbewusstsein, Würde und Sinn definitiv aus. Da dies das ist, was wir emotional als Verbrechen empfinden (obwohl es nicht auf alle Formen einen Paragraphen gibt), ist es notwendig, solche Handlungen vor anderen zu verbergen und Entlarvung, Vorwürfe und Bestrafung zu fürchten. Das ist wohl das Gegenteil vom Selbstbewusstsein. Es bedeutet, dass ich andere als Quelle meines Nutzens verwende, in Kants Diktion als Mittel zum Zweck. Wenn ich jedoch den Menschen nicht als den ultimativen Zweck verstehe, bin ich es selbst auch nicht. Ich akzeptiere, dass auch ich für andere nur ein unwürdiges Mittel zum Zweck bin. Das grundlegende Bewusstsein des Sinns, der auf Beitrag und Wertschätzung basiert, wird in einer Situation, in der ich für andere einen Verlust darstelle, ungeachtet der ostentativen Demonstrationen des Gegenteils, zwangsläufig zu einer Erfahrung der Leere, Wertlosigkeit und Vergeblichkeit.

Kaum jemand sieht den Statuswettbewerb als Problem. Die Überlegenheit gegenüber anderen in irgendeiner Weise ruft eine hormonelle Befriedigung hervor, die mit Psychopharmaka vergleichbar ist – einschließlich Sucht. Die Grenze des Verletzens ist verschwommen, die rechtliche Abgrenzung rudimentär, die Folgen sind versteckt, umso gravierender. Wenn ich das Problem erkenne, kann ich über eigene Motive nachdenken und überlegen, ob ich wirklich andere zu meiner Befriedigung demütigen muss, ob das Erlebnis einer Überlegenheit für mich tatsächlich so wertvoll ist, und eine Art wählen, die nicht demütigt. Gleichzeitig hilft die Selbstreflexion sehr, die Motive anderer zu verstehen, die Machtgier zu erkennen und ihr gegenüber wachsam zu sein.

Trotz aller gut gemeinten Appelle, wir werden die tribale Unterscheidung zwischen den Unseren und den Fremden nicht los. Zum Glück, denn sie ist der Eckpfeiler des sozialen Zusammenhalts. Ein Problem kann die Art der Beziehungen zu den Fremden sein: freundlich oder feindselig, kooperativ oder konkurrierend, gleichberechtigt oder hierarchisch; schließlich genauso wie die Beziehungen zwischen Individuen.

Die kollektiven Einstellungen sind jedoch nur von statistischer Natur, eine Art Durchschnitt der breiten Palette unserer Einstellungen. Diese sind üblicherweise wesentlich vielfältiger als der durchschnittliche Unterschied zwischen den Unseren und den Fremden. Die Unterschiede zwischen Christentum, Islam und Judentum zum Beispiel sind im Vergleich zu den Unterschieden innerhalb jedes einzelnen von ihnen wenig bedeutend.

Wir sind keine unbeteiligten Beobachter, jeder von uns bewegt den Durchschnitt in die eine oder andere Richtung. Eine Veränderung ist nicht das Ergebnis einer plötzlichen kollektiven Erleuchtung, sondern einer ganz allmählichen und unauffälligen Verschiebung. Nach und nach kommen immer mehr Einzelne zu dem Schluss, dass jene, die mit der linken Hand schreiben und essen oder gleichgeschlechtliche Menschen lieben, keine gefährliche Abweichler sind, sondern eine natürliche und harmlose Minderheit. Irgendwann wird die Gesellschaft als Ganzes davon absehen, Linkshänder umzuerziehen und Homosexuelle zu bestrafen, obwohl viele nach wie vor anderer Meinung sind.

Zu erkennen, dass die gegenwärtige allgemeine Polarisierung nicht dem Wesen der Gemeinschaft entspringt, dass der süße Hass, dem wir uns gerne hingeben, nur den tatsächlichen Gewinnern dient (die er auf einer sonderbaren Weise meidet), ist für das Verstehen der zukünftigen Entwicklung entscheidend. Auf jeden Fall erwarten uns turbulente Zeiten. Wir können uns in Kriege gegen diejenigen verwickeln lassen, denen es genauso geht wie uns oder schlechter, oder uns gegen diejenigen verbünden, die uns zu Hass und in den Krieg manipulieren.

Die wichtigste Aufgabe wartet jedoch auf ein Umdenken in der Wirtschaft. Ein Problem besteht meines Erachtens darin, dass der Begriff Wirtschaft jede Tätigkeit umfasst, die auf eine Vermögensvermehrung abzielt. Es ist vergleichbar mit der Einbeziehung von Ärzten, Sanitätern, Trainern, Soldaten und Mördern unter den Begriff Gesundheitswesen. Wenn wir den Bereich der Wirtschaft als ein System des gegenseitig vorteilhaften Austauschs definieren, werden wir eine ganze Reihe von Aktivitäten ausschließen, die auf dem Schaden anderer beruhen.

Dazu zählen nicht nur die deklarierten Straftaten, sondern beispielsweise auch eine Gesetzgebung, die darauf abzielt, einige auf Kosten der anderen zu begünstigen und den Reichtum zu konzentrieren. Solche zu erkennen ist angesichts der Komplexität des wirtschaftlichen und rechtlichen Systems sowie der verschleiernden populistischen Diktion von Maßnahmen, Reformen, Anpassungen, Korrekturen, Steuersenkungen, Ausgleiche, Harmonisierungen, nicht einfach. Doch man kann nach den Verteilungseffekten fragen: sind sie plausible, oder werden die Gelder von unten nach oben umverteilt, von den ärmeren zu den reicheren?

Die genetische Entwicklung über den Horizont von Hunderttausenden und Millionen Jahren wurde durch die immer schnellere kulturelle Entwicklung über die Horizonte von Jahrzehnten und Jahren ersetzt. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass sich unsere emotionale Ausrüstung evolutionär entwickelt. Wir fühlen genau so wie unsere Vorfahren vor zehntausend Jahren und als unsere Nachkommen, falls überhaupt, in zehntausend Jahren. Das Einzige, was angepasst werden kann, sind unsere kulturellen Muster. Techniken zur Früherkennung von Bedrohungen und Mechanismen zu ihrer Prävention können nur kontinuierlich weiterentwickelt werden. Die bedrohlichste Gefahr sind weder die globale Erwärmung noch die globalen Pandemien, sondern wir selbst. Keine Naturkatastrophe, kein Klimawandel, keine Epidemie haben so viel Leid und Tod verursacht wie der Mensch. Und ein weiterer großer Krieg, der langsam denkbar wird, könnte für eine sehr lange Zeit der letzte sein.

Tschechische Originalfassung: Proč nekradeš?, 3. Oktober 2020