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Referat Antikomplex, Tschechisches Zentrum Wien, 29. November 2011

Der Arbeitstitel dieser Veranstaltung lautete ursprünglich Wie konnte es zu Massaker in der Nähe von Dobrenz kommen?, was mir etliche herzhafte Anspielungen bescheren würde. Denn sowohl wir Tschechen wie auch wir Österreicher wissen allzu gut wie es dazu kommen kann: durch das Zusammenspiel zwischen der Verunsicherung, Angst, der Identitätskrise und dem Treiben psychopatischer Persönlichkeiten nach der Macht über Andere durch das Hassschüren. Es funktioniert bis heute, siehe den Ausländerhass in Österreich oder den Romahass in Tschechien.

Spannender war der Untertitel: wie geht Tschechien mit der eigenen Geschichtsaufarbeitung um? Besonders wenn man die Gelegenheit hat, die Geschichtsverarbeitung in den beiden Ländern zu beobachten.

Fangen wir mit den Ähnlichkeiten an. Die beiden Gesellschaften tragen eine traumatisierende Kollektiverinnerung aus den vierziger Jahren weiter, in der sie selbst, ihre Vorfahren oder ihre Mitbürger Ungeheuerlichkeiten begangen haben, für die es nachhinein keine Erklärung, keine Nachvollziehbarkeit, keine Entschuldigung gibt und die im kollektiven Unterbewusstsein eine ständige latente Wiederholungsgefahr darstellen.

Auch die unmittelbare Aufarbeitung verläuft ähnlich. Die beiden Länder präsentieren sich als erste Opfer Hitlers und weisen die Täterschaft ausschließlich den Deutschen zu. Insbesondere den Sudetendeutschen, die als Inbegriff des Nationalsozialismus galten. In der Tschechoslowakei wie auch in Österreich. Die plötzliche Stellungsnahme Österreichs auf der Seite der Sudetendeutschen ist ziemlich konfus. Nicht nur, dass es ihre Vertreibung aus der Tschechoslowakei ausdrücklich gebilligt und unterstützt hat, es hatte den verelendeten Vertriebenen auch keine Hilfe geleistet und seine einzige Sorge war es, möglichst alle nach Deutschland weiter zu vertreiben. Die Zahl der Toten auf dem österreichischen Gebiet wird auf etwa 1600 geschätzt.

Auch die spätere Aufarbeitung verlief ähnlich. Die Vergangenheit wird zuerst aus dem Alltagsleben verdrängt und den Experten, den Historikern überlassen. Sie sorgen schon dafür, dass das Topos der Opferidentität und der deutschen Alleinschuld kultiviert wird und dass keine unangenehmen Fragen gestellt werden. Erst zwanzig Jahre später öffnet die nächste Generation die alten Wunden wieder, in der Tschechoslowakei, in Österreich, wie auch in Deutschland selbst. Doch dauert es weitere zwanzig Jahre, bis sich Präsident Havel und Kanzler Vranitzky anfangs Neunziger für die Verbrechen ihrer Mitbürger offiziell entschuldigen.

Natürlich gibt es Unterschiede. Wir können gleich den wichtigsten nennen, auf den zur Relativierung der Vertreibungsverbrechen ständig hingewiesen wird: die Zeitfolge. Es bleibt unbestritten, dass die Vertreibung selbst sowie ihre Brutalität erst unmittelbare Folgen der hervorgegangenen Brutalisierung durch die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Krieges gewesen sind, sowie dass es wesentliche Unterschiede in ihrer Intention, Ausmaß und Dauer gibt.

Und es gibt noch ein wichtiger Unterschied in der Ausgangslage: Österreich war Kriegsverlierer, die Tschechoslowakei befand sich unter den Siegern. Und wie bekannt, es werden immer nur die Verlierer gerichtet, nicht die Sieger.

Bei näherer Betrachtung stellen wir weitere Unterschiede fest, die die feinen Nuancen zwischen den beiden Zwillingsgesellschaften widerspiegeln. Die Geschichtsaufarbeitung auf der österreichischen Seite folgt den bewährten Weg von Oben nach Unten. Es muss zuerst die Obrigkeit, selbst unter Druck stehend, anhand fachlicher Expertisen zu einem Erkenntnis kommen und diese dann dem Volke offiziell und verbindlich kundmachen. Damit wird die Sache ein für allemal abgehackt. Wohl mit allen Konsequenzen, wie Entschädigungen für die Opfer, Ritualisierung durch Pflichtschulbesuche in den KZs, strafrechtliche Verfolgung derer, die die Schuld zu relativieren wagen würden.

Auf der tschechoslowakischen Seite war es jedoch eben die Obrigkeit, die den Hass geschürt, die Verbrechen unterstützt, ja organisiert, ihre Täter amnestiert und jede kritische Aufarbeitung verhindert hat. Zuerst die Regierung Beneš, danach die kommunistischen. Die tschechische Geschichtsaufarbeitung folgt den umgekehrten Weg von Unten nach Oben. Sie wird von der Zivilgesellschaft getragen und gegen die Obrigkeit schrittweise durchgekämpft.

Die kritischen Ansätze sind in allen Perioden festzustellen. Sie fangen bereits währen der wilden Vertreibung an, unter Intellektuellen, in der Presse, in einem nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung. Nicht nur durch Stellungnahmen, sondern ebenfalls durch einige gerichtliche Verfolgungen noch vor dem September 1945. Im Juli 1947, noch bevor der organisierte Transfer abgeschlossen wurde, wurde bereits eine parlamentarische Sonderkommission eingesetzt, die das „Vorgehen gegen Deutsche, Ungarn und andere Personen nach dem 5.5.1945“ ausführlich untersuchte und bis heute die wichtigste Informationsquelle über die damaligen Ereignisse bleibt.

Das vorläufige Aus brachte erst der kommunistische Putsch im Februar 1948. Die weitere Aufarbeitung war in der ČSR für sehr lange Zeit so gut wie unmöglich, die kritischen Stimmen kamen während der 50er praktisch nur mehr aus dem Exil.

In der ČSR selbst ist das Thema mit der Entspannung der 60er Jahre wieder aufgeflammt, zuerst unter den jungen Historikern, es folgten Diskussionen in Zeitschriften, im Rundfunk, die Vertreibung wurde zum Thema von Kunstfilmen. Alle Zeichen standen dafür, dass das Prozess der Geschichtsaufarbeitung von sich aus, aus eigener Notwendigkeit und ohne jeglichen Druck von Außen weiter gehen wird.

Doch es wurde wieder durch die Okkupation und die anschließende Normalisierung unterbrochen. Bis 1978, als ein nächster junger Historiker die Diskussion in einer Exilzeitschrift wieder öffnete. Diesmal gab es bereits breite Kontakte zwischen dem Dissent zu Hause und den Exilintellektuellen, sodass sie monate- und jahrelang weiterging. Ihre unmittelbare Folge war jene Entschuldigung Havels gleich nach der Wende. Doch die breiten Schichten sowohl der tschechischen wie auch der sudetendeutschen Bevölkerung waren dafür noch absolut unvorbereitet und Havel wurde zum Rückzug gezwungen.

Eine wirklich breite Auseinandersetzung fängt also erst in den 90er Jahren an und folgt alle Phasen des vorherigen Intellektuellerdiskurses. Verglichen mit diesem ergibt sich jedoch ein neuer Aspekt. Es handelt sich nicht mehr um rein persönliche, unverbindlich moralische Haltung, sondern um die Positionen des Staates mit, unter Umständen, folgenschweren Konsequenzen. Dazu wurde man laufend mit Eigentumsforderungen der Vertriebenen konfrontiert und es war zunehmend schwer, historische, kulturelle, ethische Argumente vorzubringen, da diese sofort mit der pragmatischen Frage der Restitutionen konfrontiert wurden.

Alle bisherigen tschechischen Regierungen verharren bis heute mehr oder weniger an den tschechoslowakischen Nachkriegspositionen, wenigstens von Außen aus gesehen. Intern können sie sich freilich dem Meinungsbildungsprozess der Gesellschaft nicht entziehen und nicht wenige Abgeordnete und Politiker gehören den kritischen Kreisen an. Doch lässt sich in der offiziellen Politik wenig Bewegung feststellen. Neben der Havel-Entschuldigung gehört dazu wohl die deutsch-tschechische Deklaration aus dem Jahre 1977 sowie der Auftrag der Paroubek-Regierung aus dem Jahre 2003, die Vertreibung der sudetendeutschen Antifaschisten aufzuarbeiten. Damit ist jedoch die Liste der offiziellen Gesten auch beendet.

Auf der Seite der Zivilgesellschaft hat die Aufarbeitung unmittelbar nach der unerwarteten Entschuldigung Havels zuerst in dem Medien angefangen und dauert bis heute an. Die anfangs heftigen Proteste folgten schrittweise nüchterne Analysen, es meldeten sich Historiker, Publizisten, Zeitzeugen und einfache Bürger zum Wort, sodass es inzwischen kein anderer Abschnitt der tschechischen Geschichte gibt, der auf vergleichbarer Weise dokumentiert, analysiert und aufgearbeitet würde.

Bezeichnend ist, dass sich in der Geschichtsaufarbeitung besonders junge Leute engagieren. Die damalige Jugendgruppe Antikomplex muss ich nicht erwähnen, sie ist heute Mitveranstalter dieser Diskussion. Ich kann ein anderes Beispiel von Brünn nennen: 2000 entstand hier eine Gruppe von damals Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen, die den brünner Rathaus aufgefordert haben, sich für den Todesmarsch zu entschuldigen und über ihn eine Ausstellung organisierten. Heute sind die meisten bereits fort, doch inzwischen ist in Brünn unabhängig von ihnen eine neue Generation angewachsen, die unter Anderem als Gedenken den Todesmarsch jeweils zum Jahrestag veranstaltet.

Noch ein anderes Phänomen muss ich erwähnen: es ist das Entstehen einer sozusagen parallelen bzw. unabhängigen Historiografie. Sie ist die Reaktion auf die Feststellung, dass die offizielle, akademische Historiografie lügt. Damit meine ich weniger die allgemeine Feststellung Arthur Schopenhauers, dass die Geschichte mit der Lüge wie eine Hure mit der Syphilis infiziert ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass uns die akademische Historiografie das sagt, was wir von ihr hören wollen. Es wäre auch eine Zumutung etwas anderes zu erwarten, sind doch die Akademiker von ihren Professuren, Dozenturen, Forschungs- und Lehraufträgen abhängig.

Neben der Historiografie und der Publizistik hat sich der Vertreibung die Kulturszene bemächtigt. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen, im Theater werden die Morde an Deutschen in Postelberg rekonstruiert, im öffentlichrechtlichen Fernsehen laufen Zeitdokumente über das Morden auf tschechische Art, im Vorjahr ist ein bemerkenswerter Roman einer jungen Schriftstellerin über den Brünner Todesmarsch erschienen und heuer verzeichnet großes Publikumserfolg der Film Habermanns Mühle über das, wie die Tyrannisierten zu Tyrannen wurden, wie ich in einer Zuschauerreaktion gelesen habe.

Inzwischen bekennen sich zu der Nachkriegstragödie auch ganze Gemeinden. Im Aussig wurde das Collegium Carolinum gegründet, dass sich dem deutsch-tschechischen Zusammenleben widmet, an mehreren Tatorten sind Kreuze der Versöhnung entstanden, Gemeinden legen Kränze an den Gräben der Vertreibungsopfer nieder, einige auch in Österreich, wie Jihlava oder Mikulov. Wichtiger als bloße Gesten – in etlichen Gemeinden, besonders entlang der bayerisch-tschechischen Grenze, wurden die Vertriebenen als angesehene Landsleute wieder aufgenommen und beteiligen sich aktiv an dem Stadtleben.