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Publiziert in: Solidarität in Europa / Solidarita v Evropě, Österreichische Kommission Iustitia et Pax, Wien, 2011

Der österreichische Dokumentarfilmer und Künstler Friedemann Derschmidt, der in der österreichisch-tschechischen Grenzregion eine Reihe kultureller Aktivitäten veranstaltete, merkte einmal an, dass sich der österreichische Einflussraum in Südmähren nach Norden durch Heiligenstatuen aus Zogelsdorfer Sandstein auszeichnen würde, während der tschechische in Richtung Süden durch militärische Bunkeranlagen aus Beton markiert sei. Es ist wohl die treffendste Beschreibung der österreichisch-tschechischen Beziehungen, die ich bislang gehört habe.

Nur die früher Geborenen bzw. historisch Versierten wissen jedoch, dass ihr heutiges Bild, wie immer es mit der Derschmidtschen Beobachtung im Einklang zu bringen ist, nicht der historischen Wirklichkeit entspricht. Seit dem Entstehen der beiden Zwillingsstaaten haben sich diese vom Pragmatismus gegenseitig abhängiger Schicksale über die Frostigkeit des Kalten Kriegs bis hin zu herzlichen Beziehungen beider Zivilgesellschaften entwickelt. Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhang herrschten an beiden Seiten der Grenze eine unbelastete Begeisterung über das Wiedersehen sowie optimistische Zukunftserwartungen vor.

Eine offene Feindschaft trat historisch zum ersten Mal erst viel später an den Tag, als es für diese offenbar keine rationalen Gründe mehr gab. Sie gipfelte erst nach dem Jahr 2000 in rabiate Wortgefechte der Politiker beider Länder, den österreichischen Vetodrohungen gegen den Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union, sowie mit der Teilnahme Tschechiens an den EU-Sanktionen gegen Österreich.

Nach einigen Jahren haben beide Seiten diese traumatische Phase auf bewährte Art und Weise bewältigt: durch Verdrängung sowie durch Verharren in einer Haltung eines beleidigten Adoleszenten. Auch die EU wurde zufriedengestellt, indem der peinliche Konflikt von den Titelseiten und den Tagesordnungen verschwand. Verfrüht! Ein Jahrzehnt später drohen an anderen Stellen neue Konflikte mit ähnlicher Anatomie, jedoch mit rasanterer Dynamik.

Die Zeit, die wir zu einer ruhigen kritischen Reflexion hatten, ist ungenutzt verstrichen. Obwohl zu spät, ist es immer noch sinnvoll, über diese Entwicklung wenigstens nachträglich nachzudenken.

Auf den ersten Blick ging sie von dem Konflikt über die österreichischen Vorstöße gegen das AKW Temelín sowie gegen die Beneš-Dekrete aus und wurde durch die arroganten und aggressiven Reaktionen der tschechischen Seite weiter verschärft.

Bei näherer Betrachtung stellen wir jedoch fest, dass diese Motive zu kurz greifen. Die Anti-Temelín Kampagne wurde durch keine vergleichbare Aktion gegen andere, in der Regel weniger sichere AKWs in der österreichischen Umgebung begleitet. Und trotz zäher Bemühungen der österreichischen Sudetendeutschen Landsmannschaft zeigte die österreichische Gesellschaft an den Beneš-Dekreten fünfzig Jahre lang kaum Interesse. Die österreichische Vor- und Nachkriegspolitik teilte übrigens die tschechoslowakische Haltung den Sudetendeutschen gegenüber, bekundete für ihre Vertreibung seinerzeit ihr vollstes Verständnis und betrieb sie durch die weitere Abschiebung nach Deutschland sogar selbst weiter.

Die erste Schlussfolgerung ist also, dass die konkreten Konfliktthemen nur stellvertretend gebraucht werden und erst nachträglich für ein anderes, tatsächliches Problemfeld instrumentalisiert wurden, dessen Konturen auf den ersten Blick verdeckt bleiben.

In der Welt der neoliberalen Denkweise kommt uns freilich als Erstes das wirtschaftliche Konkurrenzverhalten in den Sinn. Auch dieses können wir jedoch im gegebenen Fall als Ursache ausschließen. Zum Unterschied von den politischen haben sich die wirtschaftlichen Beziehungen im gleichen Zeitraum mehr als erfolgreich entwickelt und besonders Österreich hat von der Grenzöffnung gehörig profitiert. Seitens der Wirtschaft zeigte sich im Gegenteil ein starkes Interesse an der Eindämmung und Stilllegung des Konflikts.

Mehrere Indizien finden wir für eine weitere Standardthese, dass nämlich die ausländischen Feindbilder zur Ablenkung von heimischen Problemen sowie zur Integration der polarisierten Gesellschaft instrumentalisiert wurden. In den beiden Ländern ist in der Zeit nach der Wende 1989 ein ähnlich heftiger Rechtsruck erfolgt. Auf tschechischer Seite konsolidierte die bürgerlich-demokratische ODS mit Václav Klaus an der Spitze nach dem Zerfall der ČSFR ihre Macht, auf österreichischer startete Jörg Haider mit der FPÖ seinen unaufhaltsamen Aufstieg.. Die integrative Wirkung des österreichisch-tschechischen Konflikts war in den beiden Staaten nicht zu übersehen.

Doch auch diese These liefert keine zufriedenstellende Erklärung. Vor allem setzt sie ein handelndes Subjekt voraus, das die Feindbilder bewusst pflegt und instrumentalisiert. Ein solches können wir jedoch im gegebenen Fall nicht erkennen, die Eskalation verlief auf beiden Seiten spontan und quer durch das politische Spektrum. Zum Zweiten lassen sich auf keiner Seite akute heimische Probleme solcher Art festmachen, die mit Hilfe ausländischer Feindbilder zu lösen gewesen wären. Insbesondere liefert ein Hinweis auf „heimische Probleme“ selbst noch keine Erklärung, sondern verschiebt diese lediglich auf andere, unspezifizierte Ursachen weiter.

Eben diese Spontaneität und politische Indifferenz weisen jedoch darauf hin, dass die Konfliktursachen nicht in einem politischen Kalkül lagen, sondern in tieferen Ebenen des Kollektivbewusstseins beider Gesellschaften eingebettet waren. Spontane, nach Außen hin irrationale Aggressivitätsausbrüche sind üblicherweise Zeichen eines Selbstvertrauenverlustes und des Mangels an innerer Sicherheit. Dafür spricht auch die auf beiden Seiten überdauernde gereizte Position eines Beleidigten und Verletzten nach dem Abklingen des eigentlichen Konflikts.

Für eine solche Interpretation finden wir freilich um die Jahrhundertwende etliche einschlägige Indizien. In beiden Gesellschaften bedeutete der erwähnte Rechtsruck einen rücksichtslosen Abbau sozialer und solidarischer Werte, die die Grundlage für die Sicherheit der vergangenen Jahrzehnte gebildet hatte, ohne sie durch ein anderes Wertesystem, als durch den individuellen Egoismus und den nationalen Chauvinismus zu ersetzen.

Rechnen wir zu dieser Haltung auch noch die subjektive Wahrnehmung der internationalen Position der beiden Länder hinzu. Österreich ist aus seiner Prestigeposition aus der Ära Kreisky in eine sechsjährige internationale Isolation im Zuge der Waldheim-Affäre geraten, die sich nach 2000 durch die EU-Sanktionen in Folge der Schüssel-FPÖ-Koalition weiter prolongierte. So eine Demütigung ist freilich ein großer Rückschlag für das ohnehin gestörte Selbstbewusstsein einer Gesellschaft.

Obwohl weniger sichtbar, erlebte auch das Selbstbewusstsein der tschechischen Gesellschaft ähnliche Frustrationen und Demütigungen. Die nachrevolutionäre Erwartung, dass die Rückkehr des am weitesten entwickeltes Landes der Region zurück nach Europa lediglich eine Formalität sei, wurde laufend mit einer gegensätzlichen Realität konfrontiert, angefangen mit der Übernahme des Acquis communautaire und den Brüsseler Richtlinien über die Entschädigungsansprüche der Sudetendeutschen bis hin zu den Übergangsregelungen auf dem Arbeitsmarkt. Der ausgeprägte Euroskeptizismus der beiden Gesellschaften baut somit auf ähnlich soliden Grundlagen auf.

Die zweite Schlussfolgerung, die wir ziehen können ist also, dass die eigentliche Konfliktursache in dem gestörten kollektiven Selbstbewusstsein der beiden Gesellschaften zur gleichen Zeit zu suchen ist. Dieses findet durch die konkreten Handlungen ihrer politischen Repräsentanz erst Gelegenheiten für Abwehrstrategien des Typs „Schaut, die sind doch noch schlimmer als wir“. Die Gegenangriffe der anderen Seite, gleichen Strategien folgend, müssen logischerweise eine hysterische Konflikteskalation hervorrufen. Die Instrumentalisierung des Konflikts durch populistische Politik ist also erst als sein nachträglicher Missbrauch, nicht als die eigentliche Ursache zu verstehen.

Psychologisierende Erklärung auf der gesamtgesellschaftlichen, ja staatlichen Ebene mag den Politologen vielleicht befremdend vorkommen. Ist doch die Staatsräson eine objektiv rationalisierte und entpersonalisierte Essenz vieler subjektiver und irrational denkender Einzelakteure. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass jede konkrete politische und staatliche Entscheidung von lebenden Personen mit allen ihren Befindlichkeiten getroffen und von anderen unter den gleichen Bedingungen angenommen bzw. abgelehnt wird. Eine rein rationale Politik gibt es ebenso wenig, wie einen rein rational denkenden und handelnden Menschen.

Die Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen Selbstvertrauensdefizit, Demütigung, Aggressivität und Konflikteskalation ist weder überraschend noch neu, sondern wird lediglich weitgehend ignoriert. Sie gilt für ein volles Spektrum von Beziehungen, von den interpersonellen bis zu den Beziehungen zwischen Gesellschaften, Staaten und Zivilisationen.

Sie wird auch durch die Geschichte der österreichisch-tschechischen Beziehungen bestätigt, die ebenfalls Perioden einer besonderen Gegenseitigkeit beinhaltet. Dazu gehören die 1930er Jahre, als die tschechoslowakische Gesellschaft den österreichischen demokratischen Kräften Unterstützung und Asyl gewährte, die 1960er Jahre, als die österreichische die Emanzipation der tschechoslowakischen Zivilgesellschaft miterlebte oder die 1970er und 1980er, als Österreich der tschechoslowakischen Dissidentenbewegung eine ähnliche Unterstützung gewährte. Nicht zufällig waren es alles Zeiten eines erhöhten Selbstvertrauens der jeweiligen Zivilgesellschaft.

Ein Zustand des gestörten Selbstvertrauens hat freilich auch andere praktische Folgen. Im Vergleich mit dem Wertmaß und der Intensität der grenzüberschreitenden Kontakte unter anderen Ländern entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs verdienen es die österreichisch-tschechischen Beziehungen, unter Denkmalschutz gestellt zu werden. Besonders auffällig ist der Vergleich mit den deutsch-tschechischen bzw. deutsch-polnischen Beziehungen, die durch historische Ressentiments unvergleichlich belasteter waren. Trotzdem haben hier die Grenzregionen in den letzten zwanzig Jahren eine dynamische und gut sichtbare Entwicklung genommen. Hingegen bleibt das österreichisch-tschechische Grenzland die gleiche leblose Region am Rande der getrennten Welten, ohne Arbeitsgelegenheiten und mit schrumpfender Bevölkerung, wie die vierzig Jahre zuvor. Befindlichkeiten haben ihren Preis, der, solange andere ihn zahlen, ruhig in die Milliarden gehen kann.

In Europa gibt es wenige Länder mit einer so umfangreichen und intensiven historischen Erfahrung mit Identitätskrisen und den daraus folgenden Populismus, Hass und dem Missbrauch von Ressentiments. Die Folge davon sind tragische, bis heute andauernden Folgen, wie es mit Österreich und Tschechien der Fall ist. Wir sollten deshalb diejenigen sein, die solche Anzeichen auch an anderen Orten rechtzeitig erkennen, die anhand eigener Erfahrung imstande sind, Gefühle und die grundlegenden Motive ihrer Träger zu verstehen, ihre Risiken vorauszusehen sowie Strategien gegen ihre Eskalation sowohl für Andere, wie auch für uns selbst zu suchen und zu entwickeln.

Dies ist zwar keine Aufgabe für eine adoleszente Politik, doch unsere eigene unheile Vergangenheit würde damit wenigstens einen positiven Sinn erhalten.